Die Autorinnen halten den Lebensabschnitt zwischen 5 und 10 Jahren für eine immens wichtige Zeit, um Kindern elementare soziale und gesellschaftliche Regeln zu vermitteln, besonders in Hinblick auf die danach folgende Pubertät. Das Buch möchte dazu beitragen, Eltern durch diese Phase zu begleiten, die zugrunde liegenden Entwicklungen zu erklären und Lösungsansätze für verbreitete Konflikte zu bieten, die außerhalb der klassischen Erziehungsstrategien liegen. Viele Eltern kennen wohl die Auseinandersetzungen um Hausaufgaben, um Medienzeit, um Mithilfe im Haushalt, um vermeintlich unpassende Freunde, um mäkelige Esser, um Lügen und Ausreden, kennen die Ambivalenz zwischen Fürsorge und dem Fördern von Selbstständigkeit, kennen das Hin- und Herpendeln zwischen den beiden Polen "Schon groß und doch noch klein", wie die Überschrift des 2. Kapitels lautet.
Nachdem die Autorinnen einige theoretische Überlegungen über die Grundlagen von bedürfnisorientierter und autoritativer Erziehung, zur erlernten Hilflosigkeit sowie über den Unterschied zwischen Wünschen und Bedürfnissen angeführt haben, schildern sie anhand von konkreten Fallbeispielen die Probleme, die in der besagten Lebensphase auftreten können, erklären uns, wie und warum sie zustande kommen und zeigen Wege und Strategien auf, wie solche Konflikte im Rahmen von bedürfnisorientierter Erziehung überwunden werden können. Besonders schwierig ist für die heutige Elterngeneration, dass sie vieles anders als ihre Vorgänger machen will, aber noch nicht genau weiß, wie dieser Weg konkret aussieht. Das führt zum Beispiel dazu, dass manchmal zuviel Verantwortung übernommen wird, wo es gar nicht nötig wäre, dagegen an anderer Stelle eine Selbstständigkeit vom Kind erwartet wird, die es noch gar nicht leisten kann. Deshalb plädieren sie dafür, den Kindern mehr Eigenverantwortung in bestimmten Bereichen wie den körperlichen Bedürfnissen zu geben - "echte Verantwortung" - und sie dafür in anderen Bereichen intensiver zu unterstützen, z.B. darin, den Überblick über ihre Sachen und Angelegenheiten zu behalten.
Die Autorinnen führen wie im Vorgängerbuch viele praktische Beispiele an und schildern klassische Konfliktsituationen, die mit Kindern in dieser Lebensphase auftreten können. Besonders rührend fand ich das Beispiel vom Stressabbau einer Erstklässlerin, die ihre Eltern jeden Abend so lange provoziert, bis sie ausgeschimpft wird und weinen kann. Ja, kann, denn die Autorinnen sind davon überzeugt, dass es sich um eine Strategie der Psychohygiene des Mädchens handelt, denn sie baut dadurch den Stress, die Anspannung ihres anstrengenden Schultages ab. Eltern sollten also unbedingt hinter störendes oder inakzeptables Verhalten schauen und versuchen, gemeinsam einen anderen Weg zu finden. Gleiches gilt für all die anderen beschriebenen Probleme.
Speziell im Vorschuljahr entwickeln sich Kinder so stark, dass vieles aus den Fugen geraten kann. Hier ist man mit Geduld, Empathie, aktivem Zuhören, dem Zeigen echter Gefühle, dem Aufzeigen eigener Grenzen und Verlässlichkeit gut beraten, um durch die Stürme hindurch zu navigieren. Nicht bei jedem Kind ist die sog. Wackelzahnpubertät ausgeprägt, aber alle Kinder durchlaufen große Veränderungen, die sich mehr oder weniger emotional äußern können. Manchen Eltern fällt es schwer, Schritt zu halten mit dieser enormen Entwicklung, und sie trauen ihren Kindern zu wenig zu. Interessant fand ich dazu die Liste, die Kinder in diesem Alter dürfen sollten (S. 141f.). Ich bin mir sicher, dass vielen Eltern nicht bewusst ist, was Kinder eigentlich schon alles ausprobieren sollten, Durch das Vertrauen in ihre Fähigkeiten wachsen das Selbstvertrauen und die Kompetenzen unserer Kinder. Diese Erfahrung macht die Autorin Katja Seide in ihrer Arbeit als Sonderpädagogin immer wieder. Sie plädiert für viel Eigenverantwortung, viel Freiheit, viel Empathie, viel Vertrauen, um Kinder in ihrer Selbstwirksamkeit zu unterstützen. Denn Selbstwirksamkeit ist das Gefühl, was Kinder in dieser umstürzenden, aber entscheidenden Phase am meisten brauchen.
Fazit
Das Buch trifft mit seiner Bedürfnisorientierung, Feinfühligkeit und Praxisnähe sicherlich den Nerv vieler moderner Eltern, bietet machbare Ansätze und Strategien und will dazu beitragen, dass die Jahre zwischen 5 und 10 gelassen gemeistert werden können. Es wird sich auf jeden Fall zu einem Standardwerk über diese Phase entwickeln. Besonders schön finde ich, dass die Autorinnen immer wieder Beispiele aus ihrem eigenen Familienleben schildern, zum Beispiel die Geschichte mit der Brotdose der einen Tochter nach dem Schulstart (S. 146f.).
Und um nun den Bogen zu meiner persönlichen Perspektive zu schlagen: ich habe gemerkt, dass wir mit unserem 7-jährigen Großen ganz andere Herausforderungen haben, als im Buch beschrieben sind, und die Tipps und Strategien deshalb nur bedingt umsetzbar sind. Dies wurde besonders deutlich anhand der Dinge aus der beschriebenen Liste, die er größtenteils machen dürfte, aber gar nicht will. Oder auch aus der Schilderung der Anziehproblematik, die laut den Autorinnen immer nur eine temporär schwierige Phase ist: "... Keines der Kinder, deren Eltern wir befragt haben, zog das morgendliche Anziehdrama mehr als ein paar - zugegeben sehr lang erscheinende - Wochen durch." (S. 312) Das mag bei den meisten Kindern so sein, bei meinem Großen jedoch ist das ein grundlegendes, schon seit vielen Jahren existierendes Problem, das mit seinem speziellen Wesen zusammenhängt und bei dem keinerlei Besserung eintritt. Auch ist aus unserer Erfahrung heraus bei ihm (und anderen hochsensiblen, gefühlsstarken Kindern) die Co-Regulation durch die Bezugspersonen mindestens genauso wichtig wie die Eigenverantwortung. Insofern beschreibt das Buch die Herausforderungen mit der großen Mehrheit der Kinder in diesem Alter, aber eine kleine Minderheit tickt ein wenig anders, auch wenn sicherlich ähnliche Verhaltensweise zutage treten.
Unabhängig von diesen persönlichen Anmerkungen ist das Buch ein sehr wertvoller Wegweiser durch die Vorschulpubertät und Grundschuljahre und ich denke, dass ich es im Umgang mit meiner Tochter, die gerade 5 Jahre alt geworden ist, noch oft zu Rate ziehen werde. In Anbetracht der mangelnden Literatur zu diesem Thema und vor dem Hintergrund der Bedürfnisorientierung der Autorinnen des gleichnamigen Blogs kommt dem Buch eine große Bedeutung zu. Es liest sich flüssig und angenehm, und wer sein 5- bis 10-jähriges Kind besser verstehen will, sollte auf jeden Fall darauf zurückgreifen, damit die beschriebene Lebensphase mit Kindern tatsächlich gelassen und entspannt abläuft. Dann kann man gut gerüstet in die Pubertät starten.
Mein Interview mit den beiden Buch-Autorinnen:
Interview mit den Autorinnen des Wunschkind-Blogs über ihr zweites Buch
Vielen Dank an den Beltz Verlag für das Rezensionsexemplar.
Die Eckdaten:
Danielle Graf, Katja Seide: "Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn. Gelassen durch die Jahre 5 bis 10"*, Beltz Verlag, März 2018, 360 Seiten, ISBN 978-3407865045, 16,95 €
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