Vorurteile

Von Rsk6400

Als ich am Silvestertag auf unseren Flur ging, konnte ich etwas beobachten, das mich restlos begeistert hat: Unser alter Malermeister kam zu seiner Zimmertür, steckte den Schlüssel ins Schloss, schloss auf und ging hinein.
Was soll daran Besonderes sein ? Der alte Bruder ist dement. Vor einigen Monaten waren wir aus Mangel an Diesel gezwungen, nachts den Strom abzuschalten. Er hatte daher manchmal nachts Probleme, den Weg von seinem Zimmer zur Toilette und zurück zu finden. Unter den Deutschen wurde die Befürchtung laut, er könnte bei der vergeblichen nächtlichen Suche die Treppe herunterfallen (hier ein Vorurteil, das möglicherweise stimmt: Deutsche sind in Sicherheitsfragen ziemlich empfindlich). Daraufhin wurde beschlossen, ihn in ein Zimmer mit Nasszelle im Erdgeschoss zu verlegen. Das Zimmer hatte den zusätzlichen Vorteil, dass sein Zimmernachbar ein enger Vertrauter aus vielen gemeinsamen Missionsjahren war, der sich um ihn kümmern konnte.
Jetzt kommt das zweite Vorurteil, das möglicherweise stimmt: Deutsche machen gerne Pläne, die manchmal daran scheitern, dass die Menschen anders sind, als man geplant hat. Immer wieder stand der alte Mann vor der Tür seines früheren Zimmers, und probierte der Reihe nach die zahlreichen Schlüssel an seinem Bund aus, bis endlich jemand vorbeikam und ihm sagte, “Komm, du bist doch umgezogen, ich zeig dir eben dein Zimmer.” Eines Abends führte ich ihn um Neun auf sein Zimmer. Am nächsten Morgen sagte mir dann der afrikanische P.Benedikt: “Kurz nachdem du ihn aufs Zimmer geführt hattest, war er wieder an seinem alten Zimmer. Dann habe ich ihn zu seinem Zimmer geführt, bin zum Sport gegangen, und als ich zurückkam, musste ich ihn wieder auf sein Zimmer führen. Warum lasst ihr ihn denn nicht auf sein altes Zimmer zurück ?” Das hatte ich mich auch schon gefragt, aber ein erster Anlauf war an dem erwähnten, deutschen Zimmernachbarn und Vertrauten gescheitert. Jetzt nahm ich einen zweiten Anlauf und konnte ihn diesmal überzeugen. Den afrikanischen Prior, der für die Verteilung der Zimmer zuständig ist, musste ich nicht überzeugen; er ließ mich nur bis “es wäre doch besser …”, kommen und setzte selbst fort: “ihn auf sein altes Zimmer zurückzubringen.”
Unerwartete Schwierigkeiten machte allerdings der alte deutsche Schreinermeister, der die Zimmerschlüssel verwaltet. Doch auch dieser Widerstand ließ sich überwinden, und in der Weihnachtswoche ging der Umzug dann glatt über die Bühne.
Demenz ist auch in Deutschland schlimm, aber dort gibt es gut ausgebildete Altenpfleger, Ärzte, die viel Erfahrung damit haben, es gibt Sozialdienste und alle möglichen Beratungsangebote. Das alles fehlt hier, doch solange es irgend geht, wollen wir unseren alten Bruder in der Umgebung behalten, die ihm seit Jahrzehnten vertraut ist. Dumm ist er übrigens nicht: Er spricht fließend Deutsch und Suaheli, jeweils mit dem richtigen Gesprächspartner die richtige Sprache, und weiß auch über länger Zurückliegendes gut Bescheid. Mein Vorurteil, dass er nicht mehr richtig etwas wollen könne, dass er also keinen Willen im eigentlichen Sinne mehr habe, hat er kräftig widerlegt, als er nach dem Umzug freudestrahlend erzählte: “Ich bin wieder in meinem richtigen Zimmer zurück.”
Erst nachdem der alte Mann in sein Zimmer zurückgekehrt war, sprach ich mit Kisoki, seinem früheren Vorarbeiter und jetzigen Nachfolger. Er sagte mir: “Er hat mir immer gesagt, ‘Nein, das ist nicht das richtige Zimmer’, gut, dass er jetzt wieder zurückgekehrt ist.” Weil ich das Vorurteil habe (das meistens stimmt), dass Afrikaner Älteren nicht zu widersprechen wagen, sage ich: “Du weißt, dass du jetzt der Werkstattleiter bist. Wenn er dir etwas sagt, und du etwas anderes für richtig hältst, dann mach es so, wie du meinst.” Seine wunderschöne Antwort bestätigt das Vorurteil, dass Afrikaner oft ein großes menschliches Einfühlungsvermögen haben (ein Vorurteil, das allerdings auch oft nicht stimmt): “Er stört doch nicht. Er kommt in die Werkstatt, nach einer Stunde sagt er, dass er müde ist, und geht wieder. Und wenn er mir was Falsches sagt, dann antworte ich halt, dass das jetzt nicht so wichtig ist. Seit 30 Jahren ist er ein Vater für mich.”