Vortod

Erstellt am 6. Juni 2012 von Andramas

Das lange Sterben beginnt möglicherweise mit einsetzendem Desinteresse gegenüber Ideen und neuartigem Verhalten. Selbst das eigene Enkelkind, so scheint es, beschäftigt vor allem wegen der Vorstellung, es könnte in gewisser Weise – weil genetisch so vorgegeben – die Fortsetzung des eigenen Ichs sein.

Und:

“Bei mir war das damals genau so!”

Klar. Es ist nämlich immer GENAU so.

Und doch ist es selten, dass eine junge Mutter Windeln ihres Neugeborenen thematisiert. Statt dessen berichtet sie vom aufrechten Gang, vom Lächeln und von dem, was sie beobachtete, dass es ihr Kind gelernt hat.

Des Alzheimers Gattin beschreibt aller Welt des Lebens Ungemach – UND VOR ALLEM DAS. Statt zu sagen: “Heute hat er mal gelächelt, ach wie war der Tag schön”, erfährt die Welt, dass er “widder einjeschissen” hat. Und überhaupt: “Dass-er immer nur kackt”. Früh, mittags und abends.

Eines Tages scheint in unserem Leben Wirklichwichtiges nicht mehr stattzufinden. An diesem Punkt ist es aus und vorbei. Wir geraten vortot. Leben zwar noch und sind doch schon tot. Und: Irgendwann ist jeder irgendwie irgendwas dazwischen. “Vortod” scheint mir hierfür die passende Vokabel.