Oft ist es so, dass man etwas liest und sich hierzu selbst die Bilder baut. Vor allem im Erstlesealter.
Meine Dame aus Alice im Wunderland – zum Beispiel – war nie rot, aber groß, schlank und mit langen schwarzen Haaren. Sie trug stets ein langes weißes Kleid, darüber ein kleines schwarzes Jäckchen. Ihre Figur lag zwischen der Esmeralda aus dem Glöckner von Notre-Dame und der Suleika aus den Ritter-Runkel-Heften.
Doch MEINE Dame war in meiner Alice-im-Wunderland-Vorstellung deutlich älter jede dieser beiden Figuren. Angenehm älter. Sie war eine Frau um die Vierzig und trotzdem schön – Es war MEINE Dame.
Und die Dame die im Film war wieder eine andere.
So isses nun einmal, dachte ich damals wohl. Jeder Mensch entwickelt nach dem Text sein eigenes Bild. Es sei denn, es wird vorgegeben. Dann hat die Phantasie – leider-leider – keinen Spielraum mehr.
Es sollte mehr Kinderbücher OHNE Illustration geben, was allerdings in einer didaktisch denkenden Erwachsenenwelt nur schwer machbar ist. Hierfür bin ich Logiker genug und liefere mir selbst die Antithese. Wer Kinderbücher kaufen will, guckt (erst|nur) Bilder. Wer solche Bücher verkaufen will, lässt sie daher malen.
Antrag: Beschränkung der Redezeit!
Gleich Lieber, gleich. Ich komme sofort auf den Punkt.
Das Thema war also gedeckelt, bis plötzlich eines schönen Tages MEINE Dame auftauchte. Im Real Live.
Immer 6:10 Uhr das Haus gegenüber hinter sich lassend, um zur Straßenbahnhaltestelle zu gehen. Gut zu sehen von unserem Frühstückstisch aus. Sich wunderbar in das neue Potsdamer Zahnradsystem integrierend.
5:00 Uhr stehen wir beide auf, gehen Gassi und begeben uns zu meinen Eltern, wo wir täglich gegen 5:35 Uhr am Frühstückstisch sitzen – Hund unten, ich oben – und frühstücken bis 6:10 Uhr die Dame aus Alice im Wunderland vom Haus gegenüber das Haus verlässt. Jetzt ist es Zeit nach Hause zu fahren, um auch mit Lenchen noch eine Tasse Mokka zu trin…
Jetzt verzettelt der sich schon wieder!
Jedenfalls wurde es heute 6:10 Uhr – doch die Dame kam nicht.
Erst 6:14 Uhr verließ sie ihr Haus.
“Die Dame ist heute unpünktlich”, sage ich.
“Du drückst dich aber vornehm aus”, sagt meine Mutter.
* * *
Ach übrigens: Unmögliches zu glauben, ist nur eine Frage der Übung – behauptet die Dame im Wunderland. Damit – finde ich – hat sie recht.
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