Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

29.12.2011 – In der Debatte um die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung fahren deren Befürworter zunehmend schweres Geschütz auf: Sicherheitspolitiker und Behördenvertreter sprechen von „gravierenden Schutzlücken“ und werfen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger vor, „Steuergelder zu verzocken“ und eine „freiheitsfeindliche Politik“ zu betreiben.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt AngstDie Gegner der verdachtsunabhängigen Speicherung sämtlicher Kommunikations- und Verkehrsdaten argumentieren mit starken Einschränkungen der Freiheits- und Grundrechte und verweisen auf die Sinn- und Nutzlosigkeit der Vorratsdatenspeicherung.

Selbst auf europäischer Ebene machen sich Zweifel an den zahlreichen „Anti-Terror-Maßnahmen“ nach dem 11. September 2001 breit. Und auch die deutsche Bevölkerung lehnt die Vorratsdatenspeicherung mehrheitlich ab.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Speichern für die Sicherheit

Das Parlament ist gespalten: Die Union befürwortet die Vorratsdatenspeicherung uneingeschränkt. Die SPD ist zwar grundsätzlich für die anlasslose Speicherung von Kommunikations- und Verkehrsdaten, spricht sich jedoch für höhere Hürden und Sicherheitsmaßstäbe aus. Die FDP, die Grünen und DIE LINKE lehnen die Vorratsdatenspeicherung ab.

Im Oktober 2011 bedauert Innenminister Hans-Peter Friedrich im ZEIT Interview den emotionalen Umgang mit dem Thema. Er kritisiert, dass der Eindruck erzeugt wird, es „würden von jedem verdachtsunabhängig Daten erhoben“ und beschreibt die geplante Speicherung so:

Im Grunde geht es darum, die Verbindungsdaten, die bei den Anbietern ohnehin etwa zum Zwecke der Abrechnung anfallen, eine Zeitlang zu speichern.“

Anfang November wenden sich Unionspolitiker mit einem Brief an Angela Merkel, Horst Seehofer und Philipp Rösler. Im Namen von Hans-Peter Uhl (CSU), Wolfgang Bosbach (CDU), Günter Krings (CDU) und Manfred Weber (CSU) fordert der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann (CDU) die kurzfristige Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung in Deutschland. Die Verfasser sprechen von einer „gravierenden Schutzlücke“ in der inneren Sicherheit, die nicht länger hingenommen werden könne und beklagen, dass durch die fehlende Neuregelung „zahlreiche Straftaten nicht aufgeklärt werden“.

Heute äußert sich Rainer Wendt, der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft gegenüber dem „Handelsblatt“ und erhebt schwere Vorwürfe gegen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger:

„Sie verhindert seit Monaten, dass schwerste Straftaten aufgeklärt werden und behauptet tatsächlich, der Freiheit zu dienen. Diese Politik ist freiheitsfeindlich, denn sie gefährdet die Sicherheit der Menschen.“

Außerdem macht er darauf aufmerksam, dass demnächst hohe Strafzahlungen an die EU fällig werden. Wendt beziffert die Kosten auf 40.000 Euro pro Tag und resümiert:

„Frau Leutheusser-Schnarrenberger verzockt deutsche Steuergelder in Brüssel aus rein ideologischen Gründen.“

Rainer Wendt rechtfertigt seine Forderung nach der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung unter anderem auch mit den Ermittlungen gegen die Thüringer Nazi-Terroristen:

„Die Polizei könnte sehr rasch die Netzwerke von Terroristen aufspüren, weitere Taten verhindern, Festnahmen beweissicher durchführen und das Ansehen Deutschlands als moderner Rechtsstaat festigen.“

Gegner der Vorratsdatenspeicherung bezichtigt der Gewerkschaftsvorsitzende der Lüge:

„Immer wieder wird den Menschen eingeredet, es würden Telefongespräche massenhaft abgehört und intimste Lebensbereiche ausgeforscht. In Wahrheit werden lediglich Verkehrsdaten beim Netzanbieter gespeichert, was zu Abrechnungszwecken ohnehin notwendig ist“

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Was soll gespeichert werden?

Sowohl Hans-Peter Friedrich als auch Rainer Wendt behaupten, dass es bei der Vorratsdatenspeicherung nur um Daten ginge, die bei den Netzanbietern zu Abrechnungszwecken ohnehin bereits gespeichert würden und spielen die Brisanz des Themas damit deutlich herunter.

Eine nähere Betrachtung der Informationen, die im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung tatsächlich erhoben und aufbewahrt werden sollen, zeigt, dass diese Behauptung nicht der Wahrheit entspricht:

Die rund 6.000 deutschen Netz- und Kommunikationsanbieter müssten im Falle der Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung eine Vielzahl von Daten erheben, die aktuell weder gespeichert werden noch eine Rolle in Bezug auf die Abrechnung spielen. Hierzu zählen unter anderem:

  • Rufnummern und Gesprächszeiten von anrufenden und angerufenen Anschlüssen
  • Funkzelle und geografische Position, in der sich mobil Telefonierende aufhalten
  • Rufnummer und Zeitpunkt von Sender und Empfänger von SMS und MMS
  • Funkzelle und geografische Position, in der sich Sender und Empfänger von SMS und MMS aufhalten
  • IP Adressen der Gesprächsteilnehmer bei Internet-Telefonaten
  • Postfach-Kennung, IP Adresse und Zeitpunkt von Sender und Empfänger von E-Mails
  • IP Adresse, eindeutige Kennung, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende einer Internet-Nutzung

Gemäß Telekommunikationsgesetz (§ 97, Absatz 3) dürfen Telekommunikationsanbieter nur die Verbindungsdaten speichern, von denen die Rechnungshöhe abhängt. Eingehende Verbindungen, Handy-Standortdaten, E-Mail-Verbindungsdaten oder die beim Internet-Surfen genutzte Kundenkennung (IP-Adresse) dürfen dagegen nicht gespeichert werden. Bei Pauschaltarifen (flatrates) dürfen keinerlei Verbindungsdaten erhoben und aufbewahrt werden, weil diese zur Abrechnung nicht erforderlich sind.

Insofern trifft es nicht zu, dass die betreffenden Daten ohnehin gespeichert werden. Würde ein Netzanbieter dies zur Zeit tun, so verstieße er damit gegen geltendes Recht  und würde sich strafbar machen.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Vorratsdatenspeicherung und Aufklärung

Befürworter der Vorratsdatenspeicherung verweisen immer wieder darauf, dass Prävention und Ermittlung in Bezug auf schwere Straftaten durch das Fehlen einer Speicherung erheblich behindert würden.

Während des Jahres 2008 galt in Deutschland das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung. Am 2. März 2010 wurde es durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig beurteilt und für nichtig erklärt. Im Jahr 2007, also vor der Einführung der Speicherung, lag die Aufklärungsquote von Straftaten in Deutschland bei 55,0 Prozent. Im Jahr 2008, also nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung, sank die Quote auf 54,8 Prozent.

Das Max-Planck-Institut hat im Auftrag des Bundesjustizministeriums eine Studie zur Vorratsdatenspeicherung durchgeführt. Hierbei stellte sich heraus, dass behördliche Abfragen von Verbindungsdaten auch ohne die Vorratsdatenspeicherung in 96 Prozent aller Fälle erfolgreich waren.

Das Bundeskriminalamt kommt in einer Untersuchung aus dem Jahre 2010 zu dem Ergebnis, dass den Ermittlungsbehörden in insgesamt 850 Fällen Verbindungsdaten fehlten. In 479 Fällen konnten die zugrunde liegenden Straftaten nicht aufgeklärt werden. In den anderen Fällen war die Aufklärung entweder unvollständig (157 Fälle) oder erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt (214 Fälle). In Deutschland werden pro Jahr rund sechs Millionen Straftaten begangen. Geht man von insgesamt 636 Fällen aus, die aufgrund fehlender Vorratsdatenspeicherung nicht oder nicht vollständig aufgeklärt werden können, dann entspricht das einem Anteil von 0,01 Prozent. Keiner dieser Fälle wies dabei einen Bezug zum Terrorismus auf, obwohl dessen Bekämpfung immer als hauptsächlicher Grund für die Vorratsdatenspeicherung genannt wird.

Anhänger der Vorratsdatenspeicherung verweisen in den letzten Wochen immer wieder auf die Ermittlungen gegen die Nazi-Terrorzelle aus Thüringen. Angeblich kommt es hierbei aufgrund des Fehlens der Speicherung zu Einschränkungen.

Die Terroristen konnten zehn Jahre lang ungehindert Morde in ganz Deutschland begehen. Nachdem nun ein hoher öffentlicher Druck auf Behörden und Politik ausgeübt wurde, kommt es regelmäßig zu Verhaftungen im Umfeld der Terroristen. Das Fehlen der Vorratsdatenspeicherung scheint ebenso wenig einen Einfluss auf den Ermittlungserfolg zu haben, wie ihr Bestehen im Jahr 2008. Die Ursache dafür, dass man die Täter zuvor ungehindert gewähren ließ, ist offensichtlich eine niedrige Priorisierung der Taten oder ein fehlender Wille auf Seiten der Behörden. Ein Zusammenhang mit der Vorratsdatenspeicherung ist nicht zu erkennen.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Kosten der Vorratsdatenspeicherung

Rainer Wendt wirft der Justizministerin vor, aus ideologischen Gründen „Steuergelder zu verzocken“. Gemeint sind hiermit künftige Strafzahlungen an die EU, die Deutschland zahlen müsste, wenn es weiterhin nicht zu einer Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung kommt. Die konkreten Kosten werden von ihm mit 40.000 Euro pro Tag beziffert. Dies entspricht jährlich 14,6 Millionen Euro.

In diesem Fall haben die Befürworter der Vorratsdatenspeicherung Recht. Die EU kann Deutschland zu einer Strafe in der genannten Höhe verurteilen. Pro Einwohner entspricht dies einer jährlichen Belastung in Höhe von knapp 18 Cent. Definiert man diesen Betrag als „Preis der Freiheit“, dann ist er sicher nicht zu hoch angesetzt.

Abgesehen davon, ist auch die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung mit technischen und administrativen Kosten in Millionenhöhe verbunden. Diese treffen zwar zunächst die rund 6.000 deutschen Kommunikations- und Netzanbieter. Auf kurze oder mittlere Sicht würden sie jedoch in Form von Preiserhöhungen auf die Endkunden umgelegt.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Europa, Experten und Bevölkerung

In Bezug auf die angebliche Entschiedenheit Europas hinsichtlich der Vorratsdatenspeicherung ist eine wichtige Information bislang kaum in die Öffentlichkeit gedrungen: Nach langen Verhandlungen im EU-Innenausschuss hat das EU-Parlament nämlich bereits Mitte Dezember diesen Jahres eine Resolution von Sozialdemokraten, Grünen, Linken und Liberalen angenommen. Hierin wird die EU-Kommission dazu aufgefordert, alle seit dem 11. September 2001 beschlossenen „Anti-Terror-Maßnahmen“ erneut zu überprüfen. Die einzelnen Instrumente, zu denen auch die Vorratsdatenspeicherung zählt, sollen hinsichtlich ihrer Grundrechtseingriffe, demokratischen Kontrolle, Effektivität und Kosten untersucht und neu bewertet werden.

Bereits im vergangenen Jahr hatte die EU-Kommission einen Bericht zur Vorratsdatenspeicherung vorgelegt, in dem nicht nachgewiesen werden konnte, dass die anlasslose Speicherung sämtlicher Kommunikations- und Verkehrsdaten notwendig und verhältnismäßig ist.

Es zeichnen sich also auch auf EU-Ebene begründete Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Grundrechtekonformität der Vorratsdatenspeicherung ab. Passend hierzu legte das Allensbach-Institut bereits im Juli 2011 eine Umfrage vor, wonach lediglich 3 Prozent der Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung empfehlen.

Im Januar 2011 hatte der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. (BITKOM) das Meinungsforschungsinstitut Aris mit einer Untersuchung beauftragt, in der unter anderem gefragt wurde, wie die Bevölkerung über die Speicherung von Internet-Verbindungsdaten für polizeiliche Zwecke denkt. Während sich hier nur 28 Prozent der repräsentativ ausgewählten Interviewgruppe für eine viel stärkere oder stärkere Speicherung ausspricht, wünschen sich 62 Prozent eine weniger starke oder gar keine Speicherung.

Vorratsdatenspeicherung: Freiheit statt Angst

Freiheit statt Angst

Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland ist gegen eine Neuauflage der Vorratsdatenspeicherung. Nur 3 Prozent der Entscheider in Politik und Wirtschaft empfehlen diese und im EU-Parlament hat sich ebenfalls eine Mehrheit dafür ausgesprochen, die umstrittenen „Anti-Terror-Maßnahmen“ neu zu bewerten.

Verfassungsrechtler und Datenschützer gehen davon aus, dass die Vorratsdatenspeicherung weder mit dem deutschen Grundgesetz noch mit der EU-Grundrechte-Charta in Einklang zu bringen ist.

Zahlreiche Untersuchungen und Studien zeigen, dass die Vorratsdatenspeicherung keinen signifikanten Einfluss auf Prävention und Aufklärung von Straftaten hat. Gerade die jüngsten Erfahrungen mit den Nazi-Terroristen aus Thüringen zeigen, dass die bestehenden Ermittlungsbefugnisse der Behörden völlig ausreichen, wenn sie nur entschieden umgesetzt werden. Die Aufklärungsquoten sind unter Einsatz der Vorratsdatenspeicherung weder in Deutschland (2008) noch in anderen europäischen Ländern gestiegen.

Die Kosten für eventuelle Strafzahlungen an die EU, wenn Deutschland die Speicherung nicht einführt, belaufen sich pro Bürger auf knapp 18 Cent pro Jahr. Die Kosten, die durch technische und administrative Anpassungen der Netzanbieter im Rahmen von Preiserhöhungen auf die Verbraucher zukommen, dürften deutlich höher sein.

Die Vorratsdatenspeicherung dient damit einem einzigen Zweck: Sie verstärkt die ohnehin ausgeprägte Atmosphäre von staatlicher Kontrolle und Überwachung. Sie bringt Bürger dazu, sich per Telefon, E-Mail oder Internet politisch vorsichtig oder gar nicht zu äußern und bedroht damit die freie Meinungsäußerung und die Unbefangenheit der Menschen im Umgang mit ihren Überzeugungen. Die Vorratsdatenspeicherung schränkt die Freiheit des Einzelnen erheblich ein und verbreitet Angst statt Sicherheit.



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