Wikipedia: "Der Begriff Avantgarde stammt ursprünglich aus dem Sprachschatz des französischen Militärs und bezeichnet die Vorhut, also denjenigen Truppenteil, der als erster vorrückt und somit zuerst Feindberührung hat.
Im übertragenen Sinn werden unter „Avantgarde“ politische und künstlerische Bewegungen zumeist des 20. Jahrhunderts verstanden, die eine starke Orientierung an der Idee des Fortschritts gemeinsam haben und sich durch besondere Radikalität auszeichnen."
Geht es um Autos, verbindet man wohl mit dem Begriff der Avantgarde am ehesten die Marke Citroën. Die Grundlage für diesen Ruf legten schon vor dem Krieg die Traction Avant-Modelle, die mit Frontantrieb und selbsttragender Karosserie, aber auch mit einem sehr "modernen" Fahrverhalten, ihrer Zeit spürbar voraus waren. Nach 23 Jahren Bauzeit wurden sie 1955 von der legendären DS abgelöst, einem Auto, das so futuristisch, fremd und eigenartig war, dass es schnell zum Symbol wurde. Die DS war ein Produkt, das für Nonkonformismus, Fortschrittlichkeit und unabhängiges Denken stand. Dieses Auto zu fahren, das war auch ein weltanschauliches Statement. Der strukturalistische Philosoph Roland Barthes widmete ihr einen größeren Text, in dem er sie als "offenkundig vom Himmel gefallen" bezeichnete und eine "Kathedrale der Neuzeit" nannte. Marketing-Fachleute im Jahr 2010 würden für solche Statements wahrscheinlich töten. Bis auf Weiteres ist die Situation jedoch so, das auch das nichts bringen würde.
Inzwischen wurde nämlich (wieder mal) der Konformismus zum Gott des Alltags erhoben. Es begann mit der sicher richtigen Tendenz, sachliche und vergleichbare Kriterien als Entscheidungshilfe für den Konsumenten einzuführen. Die Stiftung Warentest mit ihren Noten machte den Anfang, und mehr und mehr wurde auch in der Auto-Presse mit Tabellen und Punkten zumindest der Eindruck von Objektivität erzeugt. Was nun zählt, sind Fakten. Ein Citroën DS, mit seiner technischen Anfälligkeit, seiner kruden Ergonomie und seiner Unausgewogenheit würde heute in jedem Test mit Pauken und Trompeten durchfallen.
Die Art und Weise, wie sich die DS vor den Mainstream schob, war in gewisser Weise sehr typisch französisch. In einem Land, in dem der kategorische Imperativ "sois brillant!" lautet und es als deutlichstes Zeichen von Intelligenz gilt, Dinge grundsätzlich in Frage zu stellen konnte ein solcher Realität gewordener Science-Fiction-Traum besonders gut gedeihen. Andersartigkeit galt hier an sich schon als Zeichen von Fortschrittlichkeit (und der Kunde suchte die Ursache für Probleme im Umgang mit dem Produkt eher bei sich selbst: "Ich bin noch nicht soweit" dachte man, anstatt: "Das ist unausgereift"). Deutsche Avantgarde, wenn es so was gegeben hat, äußerte sich eher im Weitertreiben vorhandener Tendenzen. So kommt es, dass der NSU Ro80 auf einer gedachten gerade Linie der Designentwicklung seiner Zeit einfach und schlicht voraus war – so schlicht, dass heute gar nicht mehr recht sichtbar ist, wie unkonventionell er zu seiner Zeit gewirkt haben muss. (Dazu sollte man bedenken, dass er 1967 erschien und bis 1965 Mercedes-Modelle noch Heckflossen hatten.)
Ginge es ums Recht haben, die substanzielle, in der Zeitentwicklung verwurzelte und mit aktuellsten Erkenntnissen referenzierte Fortschrittlichkeit des Ro80 hätte gewonnen.
In Sachen Charisma und Faszination dagegen bleibt die DS wohl auf alle Zeiten einmalig.
Neuentwicklungen heute werden vor allem nach "den Bedürfnissen des Marktes" gestaltet, d.h. die in irgendeiner Weise sichtbar werdenden Erwartungen nennenswert großer Kundengruppen werden erfüllt. Fortschritt ist in diesem Kontext nur, was nachvollziehbaren Marktvorteil – also Verkaufszahlen – bringt. Nach den Experimenten und Flops der 60er und der gepflegten Kargheit der 70er hat man die Marketing-Lektion gelernt: Der Markt muss kundenorientiert sein, nicht anbieterorientiert. "Avantgarde" heute, das ist der Name einer Ausstattungslinie, mit der im Kern erzkonservative Produkte ein etwas frischeres "Image" bekommen, weil einige Kunden es wollen.
Wie logisch und folgerichtig, dass Citroën nun den Nimbus der DS auf Produkte zu übertragen versucht, die beinahe in der Mitte mitteleuropäischer Normalität stehen! Ein paar seltsame Detaillösungen, ein neues Logo, etwas Styling aus der Puderdose: Das ist das, was durch die Mühlen des Marketing hindurchkrümeln darf, um den Kunden an die alte Herrlichkeit der "Göttin" zu erinnern. Und selbst diese Kleinigkeiten dürften umstritten sein, kosten sie doch in den aktuellen Vergleichstests immer wieder wichtige Punkte.
Hier wird sehr deutlich, was der Wandel von der Anbieterorientierung zur Kundenorientierung als Nebenwirkung mit sich brachte: Die Aufmerksamkeit wendet sich von der Substanz ("Was ist es?") ab, hin zur Oberfläche ("Wie wirkt es?"). Im Grunde sind diese neuen DS-Modelle von Citroën stinknormale Durchschnittsautos und im Grunde weiß man das sogar. Aber man nimmt es nicht wichtig. Da das Produkt zunächst mal funktioniert, wendet man sich seiner Hülle zu, seinem Image, seiner Erscheinung, und der flexible Esprit des Franzosen aus Paris macht, einmal mehr, Mode. Nun ist dieser Marketing-Trick im Falle der DS-Reihe so leicht zu durchschauen und so sehr oberflächlich, dass man, zumindest für den deutschen Markt (mit langsamer reagierenden Kunden), nicht mit allzu großem Erfolg rechnen sollte.
Wir, wir haben Audi und BMW. Image gehört bei BMW zur Erbsubstanz, bewusst weiterentwickelt, nahezu unverändert über die Jahre und vielleicht eines der wichtigsten Verkaufsargumente der Münchner. Für den BMW-Käufer ist Image eine von mehreren Funktionen, die das Auto einfach haben muss. Avantgarde ist da kaum unterzubringen, Chris Bangle hat's erlebt. Fortschritt wird nicht als solcher demonstriert, sondern in Leistung umgesetzt. Und so finden wir die deutsche Entsprechung zum "soi brillant". Sie lautet: "Leiste etwas, leiste dir etwas."
Audi, gestartet mit einer sanften, aber smarten Nicht-Konventionalität, ging durch eine Phase der Langweiligkeit des "Richtig-Machens" und arbeitete sich zum Ruf substanziellen Understatemens durch, um schließlich, heute, recht ungehemmt auf den Marketing- und Design-Pudding zu hauen, immer noch hochwertig, aber ganz ohne falsche Scham.
Von beiden Marken (ich lasse die dritte deutsche Premium-Marke mal weg, es gäbe zu viel zu sagen...) gibt es nun Kleinwagen.
BMW hat Markenrechte und Image von MINI gekauft und ein Auto gebaut, das die Fahreigenschaften und das Erscheinungsbild des Original-Mini zitiert, ohne auch nur einen Hauch seines – nun ja, eben: minimalistischen – Spirit zu besitzen. Ein kundenorientiertes Oberfläche-Produkt im besten Sinne, natürlich mit einer technischen Substanz dahinter, die eher begeistern als enttäuschen kann.
Und von Audi kommt nun der A1. Was ist das für ein Auto? Ein Audi, nur kleiner, lautet die einfachste Antwort. Positioniert gegen den Mini, transportiert er jedoch nicht das Image eines traditionellen Spaßautos, sondern die ernste, moderne Kompetenz der Marke, fast ohne Traditionsbezug, dafür mit ein paar Gags, deren Verbindung mit dem Gesamterscheinungsbild sicher keine leichte Sache war. Es scheint zu funktionieren. Und dabei ist es, wieder, ein starkes Beispiel für die Oberflächlichkeit, die Image-orientiertheit, und den damit verbundenen tiefen Konservativismus heutiger Neuentwicklungen.
Wir erinnern uns: Vor Zehn Jahren hat Audi den A2 präsentiert, konsequent, ungewöhnlich, funktional und mit einem prinzipiellen Nicht-Image, das manchem durchaus gefallen konnte. Er hatte auf dem Markt der Marktschreier keine Chance, obwohl er ein paar interessante Antworten auf aktuelle Fragen wusste. Das war Avantgarde, wenn auch in Maßen. Avantgarde, selbst wenn sie relativ unspektakulär daher kommt wie beim A2, muss erklärt werden. Und sie braucht eine Gesellschaft, die offen für Neues ist und nicht, von Angst und Sorge gepeinigt, alles Unbekannte ausstößt wie ein Organismus einen Fremdkörper
So gesehen ist die grundkonservative Haltung, die in den flotten Hüllen unserer neuen Autos steckt, eine direkte Folge der Kundenorientiertheit. Denn der Kunde ist verunsichert, weil die wirtschaftliche und energiepolitische Zukunft unserer mitteleuropäischen Welt in Frage steht. Er wählt das Bekannte, und nimmt die frische Hülle dazu, "Wellness-Faktor" und kleine Persönlichkeits-Krücke zugleich. Hauptsache, es ändert sich nichts.
Wer wagt es nun, eine Göttin zu schaffen?