Vor der absoluten Zerstörung kommt die Liebeslebenslüge

Das Schauspielhaus in Wien lädt zu einem Doppelabend, an dem 2 Stücke zum Generalthema Liebe zu sehen sind.

Gier und Illusionen am Schauspielhaus in Wien.

Thiemo Strutzenberger, Barbara Horvath, Melanie Kretschmann, Steffen Höld (© Alexi Pelekanos / Schauspielhaus)

Zwei hochbetagte Ehepaare, befreundet beinahe ihr ganzes Leben lang, laden dabei zum Showdown ihres Lebensendes. In dem Theaterstück „Illusionen“ des 1974 in Sibirien geborenen Iwan Wyrypajew wenden sich Sandra und Dany sowie Margret und Albert direkt ans Publikum um diesem jeweils eine Lebens- oder präziser ausgedrückt Liebesgeschichte zu erzählen. So präsentiert, entsteht eine Art Revue, in welcher sich rosarotes Liebesglück nach und nach in tiefschwarzen Herzschmerz verwandelt. Das Besondere daran ist, dass das Geschehen das Publikum von der ersten bis zur letzten Minute gefangen hält. Was anfänglich wie eine rasante Boulevardkomödie ersten Ranges beginnt, entwickelt sich im Laufe des Abends zu einem tiefsinnigen und hintergründigen Statement, mit welchem Wyrypajew aufzeigt, dass die Frage, was denn Liebe sei, nicht nur rein individuell zu beantworten ist, sondern sich auch in der Anschauung eines Individuums im Laufe der Zeit völlig verändern kann.

Die verschiedenen Liebeskaskaden, die sich wie ein Wasserfall ganz unerwartet über das Publikum ergießen, entwickeln sich aus einer Liebesode, die einer der beiden Ehemänner zu Beginn des Stückes seiner Frau am Sterbebett vorträgt. Wer würde da annehmen, dass sich aus dieser Ausgangsposition Dramen und Lügen, gebrochene Herzen und zerstörte Leben entwickeln? Und doch gelingt all dies dem Autor meisterhaft. In einer herausragenden Inszenierung von Felicitas Brucker, in welcher raffinierte Lichteinsätze, ein im Halbkreis angeordneter Schnürlvorhang und billigste fahrbare Kleiderkästen aus Stoff das Bühnenbild beschreiben, wird auch deutlich, dass entweder soziale Angepasstheit oder lebenslange Lügen die Menschen daran hindern, wahrhaftig zu lieben. Wobei offen bleibt, was denn Liebe nun tatsächlich ist.

Barbara Horvath, Melanie Kretschmann, Steffen Höld und Thiemo Strutzenberger brillieren allesamt als betrügende und betrogene Eheleute. Vor allem in jenem Monolog, in dem es darum geht, seine eigene Liebeslüge zu verteidigen, sie sich vielmehr noch zu suggerieren, um sie sich selbst als wahr verkaufen zu können, hat Strutzenberger einen Glanzauftritt. Immer dann, wenn es um die Sichtbarmachung von Introspektion geht, produziert das fixe Ensemblemitglied Großartiges. Steffen Höld gelingt es dabei wortlos – nur durch Körpereinsatz und beinahe schon klamaukhafte Mimik – als tragische Figur neben dem enthusiasmierten Strutzenberger zu bestehen. Keine leichte Aufgabe, jedoch bravourös gemeistert.
Die beiden Frauen verkörpern sowohl die still Leidende als auch die Kumpelhafte, die jede auch noch so schwierige Lebenslage mit ihrem Humor durchschwimmt, wie es ihren Generationsrollen entspricht nur in jenen Momenten extrovertiert, in welchen sie sich dazu beinahe genötigt sehen. Der eigene nahe Tod einerseits und die Beichte des Mannes ein Leben lange eine andere geliebt zu haben andererseits veranlassen sie, ihren seelischen Oberflächenverputz abzuschütteln und ihre wahren Emotionen zu offenbaren. „Illusion“ hätte das Zeug, sich als Dauerbrenner im Spielplan zu etablieren, was umso erstaunlicher ist, da die philosophische und psychologische Substanz des Textes aufgrund des stets präsenten Humors keinen Schaden erleidet.

Im zweiten Teil des Abends wird das Publikum Zeuge einer seelischen Befindlichkeit, die unweigerlich in den Tod führen muss. „Gier“ von Sarah Kane ist das vorletzte Stück der britischen Autorin, die sich im Jahr 1999 28jährig das Leben nahm. In ihrem Stück spielt sexueller Kindesmissbrauch eine zentrale Rolle. Das Gefühl, neben sich zu stehen, oder das Leben nur durch unkontrollierten Drogenkonsum ertragen zu können, schreibt sie furios in die Textpassagen der vier ProtagonistInnen ein. Eine schauspielerische Meisterleistung, die zur Bühnenumsetzung notwendig ist, sind es doch oft nur Satzfragmente oder in rascher Abfolge hintereinander gesetzte Wörter, die die DarstellerInnen punktgenau und permanent abwechselnd zu platzieren haben. Ein Text, den man öfter lesen müsste, um seine Figurzusammenhänge in ihrer Komplexität ganz zu erfassen. So bleibt beim ersten „Hörensehen“ der Eindruck von einer eruptiven Schreibmanie inmitten einer tiefen Depression, unterbrochen durch kurze fast galgenhumorartige Einsprengsel, die vergeblich versuchten dem Text, wie durch kurze Blitzlichter, seine unerträgliche Schwere zu nehmen. Dass der Fransenvorhang keinerlei schützende Behausung bietet und die tiefgezogenen nüchternen Alulampen das Gefühl von Gemütlichkeit erst gar nicht aufkommen lassen, ist Nadia Fistarol zu verdanken, die für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet.

Zwei völlig unterschiedliche, meisterliche Texte und ebensolche SchauspielerInnen treffen auf eine goldene Regiehand. Ein bemerkenswerter Theaterabend am Schauspielhaus in Wien.

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