Ein Zufall? Oder die Routine der Geschichte, die Menschen verpflichtet, in jeder nur denkbaren Situation die Rolle derer zu spielen, die früher bereits in derselben Lagen waren? Das Bild kann keine Antwort geben, ein Blick in die deutsche Presse kurz vor dem großen Terror-Jubiläum aber vielleicht doch. Zehn Jahre sind etwa der Zeitraum, den Gedenken benötigt, um kanonisiert zu werden. Zehn Jahre zum Geschehen bedeuten, dass - die üblichen Fünf-Jahres-Gedächtnisschritte vorausgesetzt - erstmals nicht mehr an das Ereignis selbst, sondern an die Erinenrung an das Ereignis erinnert wird.
Alle Zeitzeigen wissen noch genau, wo sie an diesem Tag waren, und jeder Erinnerungstext hebt mit der Erinnerung an, dass jeder noch genau wisse, wie damals alle egsagt hätten,. es würde von nun an nie mehr irgendetwas so sein wie vorher.
Was für ein grandioser Irrtum. Sechs Monate nach den Anschlägen stand der Dow Jones bei 10600 Punkten - und zehn Jahre danach hatte er ganze 400 Punkte gewonnen. Auch der Dax zeigt sich "nahezu unverändert" (dpa): Statt bei 4700 Punkten steht er 2200 Geschäftstage später bei 5160. Griechenland war damals gerade der Wirtschafts- und Währungsunion – Mitglied ist es immer noch. Die Bundeswehr bildete neuerdings freiwillige Frauen an der Waffe aus, ein Angebot, das sie unterdessen auch Männern macht. Kalifornien leidet nach wie vor unter Stromausfällen, die briten und ASmerikaner bombardieren allerdings nicht wie damals Bagdad, sondern Bani Walid. Die Schweiz, deren Bevölkerung 2001 gegen den Beitritt zur EU stimmte, ist immer noch nicht Mitglied.
Nichts wie es war? Von wegen. Der kurz vor den Anschlägen vom 11. September gegründete Rat für Nachhaltige Entwicklung hat die Welt bisher auch nur ein Stückchen besser gemacht: "Gemeinsam mit Investoren, Analysten, Unternehmensvertretern, Wissenschaftlern und Experten für Corporate Governance", verkündete das Gremium zuletzt, habe man "einen Entwurf zu einem Nachhaltigkeitskodex für die Wirtschaft erarbeitet", der "nachhaltiges Wirtschaften stärken und hierfür Orientierung geben" solle. Stolze Bilanz: "Nach der Praxisphase liegt der vierte Entwurf mit Stand September 2011 vor."
Sonst ist alles, wie gehabt. In Italien regiert unbeeindruckt vom Hass aller deutschen Medienschaffenden weiter Silvio Berlusconi, in weiten Teilen Afghanistans dagegen herrschen die Taliban, in den anderen die Übergangsregierung mit Hamid Karsai und in Berlin immer noch Klaus Wowereit. Zuger Attentate finden inzwischen auf Befehl geistiger Brandstifter vor allem aus Deutschland in Norwegen statt. Die Gewerkschaft Ver.di, 2001 gegründet, sieht sich zehn Jahre danach "im Stimmungs-Aufschwung".
Nichts mehr, wie es war? Hartmut Mehdorn führt weiterhin ein großes deutsches Transportunternehmen. Auch nach der Enttarnung des ehemaligen ägyptischen Staatspräsidenten Hosni Mubarak durch die deutschen Leitmedien heißt die Mubarak-Friedensbrücke weiter Mubarak-Friedenbrücke. Der Nationale Ethikrat Deutschlands ist jetzt zehn Jahre alt. Er arbeitet fleißig und, danke, es geht ihm gut. Der Kulturpreis Deutsche Sprache geht in der zehnten Auflage mal nicht an die Zeitschrift Computerbild oder das Holzversandhaus Manufactum. Sondern an die "Deutschlandstiftung Integration" für ihre Initiative „Ich spreche Deutsch“. Ja, die arbeitet auch fleißig und es geht ihr gut.
Keine Bewegung, nirgendwo. Die Welt ist seit dem 11. September wie eingefroren. Die Endzeit der DDR reloaded, ein Hauch von Hibernation, maskiert von emsiger Betriebsamkeit auf der Flachbildfernseherleinwand und getarnt mit eifrigem Geschwätz über ständig wechselnde "Aufregerthemen" (dpa). Nicht regt sich wirklich, Revolutionen werden weiterhin von der Nato durchgeführt,. Aaliyah ist immer noch tot. Nur wei keiner mehr, wer die war. Bayern wird Meister, Michael Schumacher fährt Formel 1, Klitschko ist Boxweltmeister. Die Popband New Order veröfffentlicht kein Comebackalbum, kündigt aber Comebackkonzerte an.