Es ist wahrlich nicht einfach, am Tag vor dem Generalstreik in Griechenland, Portugal und Spanien ein Stimmungsbild zu zeichnen. Denn erstens ist alles ganz schrecklich und es wird immer schrecklicher. Zweitens aber ergibt es einfach keinen Sinn, die Hoffnung zu verlieren und Besserung nicht für möglich zu halten. Je schlimmer die Situation wird, desto mehr Menschen machen sich Gedanken darüber, sind bereit, alte Strukturen zu überprüfen und aufzubrechen, neue Wege mindestens für möglich zu halten, weil sie schlicht notwendig sind und alles Gehabte nicht mehr funktioniert.
Nein, es gibt keinen Grund zu überzogenem Optimismus. Das musste auch Angela Merkel gestern in Lissabon erfahren. Trotzdem man sie gut abgeschirmt hatte und absichtsvoll weit weg vom Lissaboner Zentrum empfing, konnte Portugals Regierungschef der Kollegin einige “Liebesgrüsse” der Bevölkerung nicht ersparen. Die inzwischen beinahe üblichen Nazi-Vergleiche gaben dabei den Ton an. Die Menschen machten Merkel, wie vorher auch in Griechenland, sehr klar, wen sie für den Hauptschuldigen der Kaputtspar-Politik halten. Schon Vorfeld war Merkel von mehr als 100 Intellektuellen und Künstlern zur unerwünschten Person erklärt worden.
Drinnen alles Harmonie: Die portugiesischen Polit-Musterschüler freuten sich über den Besuch ihrer Mentorin. Draussen alles Protest: Abneigung, sogar Hass auf diejenige, die darauf besteht, in Europa das Sagen zu haben. Tolles Land, hier möchte sie gern Urlaub machen, wenn sie einmal nicht mehr Bundeskanzlerin ist, sagt sie. Keine gute Idee! Angela Merkel müsste inzwischen mit erheblichem Sicherheitstross anreisen, wenn sie ihre Ferien an den nördlichen Küsten des Mittelmeers verbringen wollte, egal wo. Und Menschen, die tagtäglich deratig leiden wie in den Südländern, vergessen vermutlich nicht so schnell. Rügen ist auch ganz schön, Frau Bundeskanzlerin – und viel sicherer für jemanden, der tagtäglich angestrengt dafür arbeitet, Menschen in vielen Ländern mehr und mehr ins Elend zu stürzen.
In Spanien ist das Panorama nicht besser. Getrieben von mehreren Selbstmorden und unverblümter Schelte durch die Richtern des Landes, setzen sich am Montag die Spitzenvertreter von Rajoys konservativer Regierung und der PSOE-Opposition in Madrid zusammen, um eilig eine Rechtsreform auf den Weg zu bringen, was die Zwangsräumungen angeht. Doch auch nach sechsstündiger Beratung hiess das einzige Ergebnis: Keine Einigung möglich! Die Gespräche werden am Dienstag fortgeführt, doch die Standpunkte sind noch weit voneinander entfernt. Vielleicht gibt es doch noch eine Einigung, falls die Online-Medien während der Verhandlungspause vom nächsten Selbstmord wegen Zwangsräumung berichten sollten.
In Griechenland ist soeben das neueste Reformprogramm – sprich: mehr Sparprogramm – auf den Weg gebracht worden. Die Troika hat endlich ihren Bericht eingereicht und kam zu einem grundsätzlich positiven Ergebnis. Das Land solle zwei Jahre mehr Zeit bekommen, um seine gesteckten Ziele zu erreichen, lautet die Empfehlung. Doch das würde zusätzliche 32 Milliarden kosten und Wolfgang Schäuble ist noch nicht überzeugt. Er will sich erst davon überzeugen, dass die Griechen endlich sparen. Sogar von einem neuen Schuldenschnitt ist die Rede. Doch das braucht freiwillige Vereinbarungen und die sind derzeit sehr unwahrscheinlich.
So bleibt es also vorerst bei “immer so weiter wie bisher, weil alternativlos”. Das bestätigte auch Portugals Regierungschef am Montag in Lissabon und Merkel lobte freundlich-schulmeisterlich den “guten Weg”, auf dem das Land sei und “natürlich weiss ich, dass die Menschen Opfer bringen müssen”. Es bleibt auch bei “alle warten auf Spaniens Rettungsersuchen”, das längst nur noch eine Zeitfrage ist. Es bleibt bei immer mehr Arbeitslosen: Iberia hat gerade angekündigt, mindestens 4.000 Mitarbeiter entlassen zu wollen, und forderte die Piloten auf, “auf 45 Prozent ihres Gehalts zu verzichten”. Es bleibt bei immer mehr Einbruch der Inlandsnachfrage, dadurch wegbrechenden Staatseinnahmen, immer mehr Sozialausgaben und dem ganzen Rattenschwanz, der daraus folgen muss. Mehr Elend.
Das in etwa sind die Streiflichter, die den morgigen Generalstreik beleuchten, der mindestens eine Woche lang dauern müsste, um wirklich Druck ausüben zu können. Also nein, das Panorama zwingt wahrlich nicht zu Optimismus. Noch schlimmer ist, dass man inzwischen nicht einmal mehr sicher ist, ob man sich wünschen soll, dass es morgen friedlich bleibt in Griechenland, Portugal oder Spanien. Wie sagte neulich ein Demonstrant in Madrid resigniert: “Wenn wir heute friedlich demonstrieren, redet kein Mensch darüber – als neulich (25. September) Randale war, haben wenigstens alle internationalen Medien darüber berichtet. Friedliche Protestzüge sind längst keine News mehr, interessieren niemanden.”
Trotz alledem ergibt es keinen Sinn, die Hoffnung aufzugeben. Mehr und mehr Menschen verstehen oder ahnen zumindest, dass dies keine konjunkturelle Krise ist – eine von denen, die es immer gab, die kommen und wieder gehen. Ganz langsam kriecht die Erkenntnis von unten hoch, dass es eine ausgesprochene Systemkrise ist, die eine grundlegende Änderung der Strukturen verlangt. Dass am Ende kaum ein Stein auf dem anderen bleiben wird, wenn es wirklich eine Lösung geben soll. Und die Angst vor Krieg grassiert unter denjenigen, die gemerkt haben, dass der Radikalismus immer mehr Futter bekommt, Arbeitslose auf Ausländer gehetzt werden, Portugiesen auf Deutsche und Deutsche auf Griechen.
Allein das immer weiter um sich greifende Gefühl, dass hier irgendetwas gewaltig nicht stimmt, ein Gefühl, das immer mehr Bevölkerungsschichten erfasst, berechtigt zu einer gewissen Hoffnung: Zu der Hoffnung auf Einsicht, dass der Lebensstandard der einen immer auf Kosten der anderen geht; zu der Erkenntnis, dass sich überdimensionaler Export hinter der Grenze in überdimensionalen Import verwandeln muss, dass die Guthaben der einen die Schulden der anderen sind – dass es ein Klassenkampf ist, der hier stattfindet, und es auf die Frage “Wer ist schuld an der Krise?” keine zwei verschiedenen Antworten gibt sondern nur eine einzige.
Morgen ist Generalstreik. Wir werden darüber berichten. Und über den nächsten. Und den danach. Es ist noch ein sehr langer schmerzhafter Weg …