Es gibt Eltern, die leben ständig auf Nadeln. Sie müssen unter anderem darauf achten, dass die Körpertemperatur ihrer Kinder nicht über 37.5 Grad steigt oder dass ihre Kinder kein Blitzlicht oder kein spezielles Muster sehen. Sie verabreichen ihren Kindern täglich verschiedene Medikamente. Und trotzdem: sie müssen immer damit rechnen, dass ihre Kinder einen weiteren Anfall erleiden und notfallmässig ins Spital müssen. Diese Eltern haben sogenannte „Dravet“-Kinder.
Was das Dravet-Syndrom ist und wie man mit dieser äusserst seltenen Krankheit als Familie lebt, haben mir Evelyn und Renata unverblümt und anschaulich erklärt und mir die Geschichte ihrer Buben Nikolaj und Romeo erzählt.
Evelyn und Nikolaj
Renata und Romeo
Romeo schien die ersten acht Monate ein kerngesunder Bub zu sein. Bis er erstmals geimpft wurde. Neun Tage später erlitt er seinen ersten grossen Krampfanfall, der unendlich lange zehn Minuten andauerte und seine erste notfallmässige Spitaleinlieferung zur Folge hatte.
Äusserst selten: Das Dravet-Syndrom
Das Dravet-Syndrom ist eine seltene, schwere und therapieresistente Form von Epilepsie. Das heisst: die Kinder haben trotz der Einnahme von mehreren Medikamenten weiterhin Anfälle. Bei zunächst gesunden Kindern treten innerhalb des ersten Lebensjahres die ersten epileptischen Anfälle auf. Der erste Krampfanfall tritt meist mit dem ersten Fieber oder nach einem warmen Bad auf. Auch Impfungen gelten als auslösender Faktor, sind aber nicht die Ursache. Diese beruht in der Mehrzahl der Fälle auf einer Veränderung oder auf das Fehlen des Gens SCN1A. Obwohl es sich um eine genetische Krankheit handelt, ist das Dravet Syndrom in den meisten Fällen nicht durch die Eltern vererbt, d. h. die Mutation des Gens tritt beim Kind spontan auf.
Tückische Auslöser im Alltag
Romeo ist unterdessen vier Jahre alt, Nikolaj feierte kürzlich seinen 2. Geburtstag. Wären da nicht die speziellen Brillen, welche die beiden Buben vor zu starken Lichtreflexen oder vor Anfällen auslösenden Mustern schützen und die Ende September weit aufgeknöpften Oberteile, würden die beiden lebhaften und hübschen Buben niemandem besonders auffallen – zumindest nicht auf den ersten Blick.
Romeo geniesst die Sonne - mit Spezialbrille.
Doch bereits ein rascher Wechsel der Umgebungstemperatur, warmes Wetter oder auch nur eine leichte fieberbedingte Erhöhung der Körpertemperatur auf nur gerade 37.5 Grad kann zu einem Anfall führen. Aber auch körperliche Anstrengung und Übermüdung sowie Infekte (mit und ohne Fieber) oder auch Aufregung, Lärm oder visuelle Reize können Anfälle auslösen. Und nicht selten können Anfälle auch ohne jeglichen Auslöser auftreten. Ein kleiner Teil der betroffenen Kinder – zu denen auch Nikolaj und Romeo gehören – ist zudem foto- bzw. lichtempfindlich oder mustersensibel.
Ein Leben auf Nadeln
Diese Anfälle auslösenden Faktoren unter Kontrolle zu halten, kommt für die beiden Mütter einem nie enden wollenden Spiessrutenlauf gleich. Sobald die eine Gefahr gebannt ist, droht das nächste Risiko. Im Sommer ist es die Hitze, im Winter sind es die überheizten Räume und in der Übergangszeit lauern überall Grippeninfekte. Gleichzeitig müssen sie ihre Kinder vor zu grellem Licht, überraschenden Lichtreflexen und – für gesunde Menschen kaum nachvollziehbar – vor dem Anblick von Mustern schützen! Der Anblick eines gestreiften Hemds eines Passanten beim Überqueren der Strasse oder das Betrachten eines Maschendrahtzauns beim Klettern auf dem Spielplatz – so wenig braucht es, um einen epileptischen Anfall auszulösen, der in mancher Alltagsituation für Romeo und Nikolaj fatale Folgen haben könnte. Während Mütter gesunder Kinder sich auf den Sommer, auf die Wärme und auf das Licht freuen, suchen Evelyn und Renata kühle Räume auf oder bleiben am liebsten ganz zu Hause und verbannen die Sonne hinter herunter gelassenen Rollläden.
Von Anfall zu Anfall
Nikolaj wird untersucht.
Ob generalisierte klonische und tonisch-klonische Anfälle, myoklonische Anfälle (Zuckungen), komplex fokale Anfälle, atypische Absencen, Anfälle mit Blinzeln und Sturzanfälle – das Spektrum der Anfälle ist breit. Bis ins Erwachsenenalter besteht die Gefahr, dass sich ein lebensbedrohlicher Status Epilepticus entwickelt. Ein Notfall-Schema zeigt auf, was Eltern oder betreuende Personen bei einem Anfall tun müssen: in erster Linie müssen Betroffene lernen, Ruhe zu bewahren und sofort die Zeit zu kontrollieren, wofür sie ständig eine Stoppuhr bei sich tragen. Dauert der Anfall länger als fünf Minuten, muss ein Notfall-Medikament verabreicht werden. Die Anfallsunterbrechung ist vor allem im Kleinkindalter sehr schwierig, was sehr häufig eine sofortige notfallärztliche Intervention erfordert bzw. das Kind muss ins Spital eingeliefert werden. Nikolaj und Evelyn haben alleine im ersten Lebensjahr des Jungen 170 Tage im Kinderspital verbracht.
Nikolaj im Spital.
Zukunft: Ungewissheit und Hoffnung
Nikolaj geht es verhältnismässig gut, doch nicht alle betroffenen Kinder sprechen so gut auf die Medikamente an und entwickeln sich so gut wie er. Die Häufigkeit der Anfälle nimmt im Erwachsenenalter tendenziell ab. Die Prognose hinsichtlich der geistigen Entwicklung ist aber oft ungünstig. Die Entwicklung des Kindes ist in der Regel bis zum Beginn der Erkrankung normal. Danach verlangsamt sich die psychomotorische Entwicklung in den meisten Fällen. Die Sprachentwicklung ist meist verzögert. Andere Symptome und Verhaltensauffälligkeiten können hinzukommen. Die Therapieresistenz dieses Krankheitsbildes Ärzte und Eltern vor grosse Herausforderungen. Auch Nikolaj ist beim letzten Medikament angelangt und damit beim letzten Versuch. Neue Therapien sind noch nicht erforscht, da die Krankheit zu selten ist.
Romeo im Spital.
Forschung fördern, Lebensqualität verbessern
Beide Mütter setzen sich dafür ein, dass die medizinische Forschung gefördert und sowohl die Politik als auch die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert wird. So gehört Renata zu den Gründerinnen des gemeinnützigen Vereins „Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz“ und kämpft für die Verbesserung der Lebensqualität von betroffenen Kindern und deren Familien.
Wie alle vom Dravet-Syndrom betroffenen Familien kämpft auch Evelyn um Errungenschaften wie das Anrecht auf Spitex oder Unterstützungsleistungen durch die IV. Das gesamte Gesundheitsmanagement absorbiert nebst beträchtlichen finanziellen Mitteln auch unendlich viel Zeit und Energie.
Zwischen Neid und Lebensfreude
Es ist nur nachvollziehbar, dass Renata und Evelyn bisweilen auf verhältnismässig einfache Probleme anderer Eltern neidisch sind. Sie, die gemeinsam mit ihren Partnern rund um die Uhr und dies seit mehreren Jahren für ihre Kinder da sind, ständig auf Nadeln sitzen und ihre ganze Energie dafür einsetzen, ihren Kindern einen nächsten Anfall zu ersparen, der früher oder später letztlich doch eintritt.
Nikolaj geniesst sein Glacé.
Doch genau in diesen lebensbedrohlichen Augenblicken, in denen ihre Kinder oft auch an Intubationsschläuchen hängen und die Eltern auf die Befreiung aus den Krämpfen hoffen, wird ihnen bewusst, was im Leben wirklich relevant ist. Vergessen sind dann Müdigkeit und Frust. Alles was zählt, ist das Wohlergehen ihrer Buben, die ihnen in den doch zahlreichen guten Momenten so viel zurück geben und ihr Leben mit ihrem Sonnenscheingemüt und ihrem Lachen unermesslich bereichern.
Renata hegt bewusst keine Zukunftspläne für Romeo. Sie geniesst jeden einzelnen Tag in vollen Zügen – so gut es geht. Sie freut sich über jeden noch so kleinen Entwicklungsschritt, über jedes neue Wort oder darüber, dass er mit vier Jahren nun rennen kann. Indes schauen Evelyn und Nikolaj nach vorne und freuen sich bereits auf den Dezember. Denn just auf Weihnachten erwartet die Familie Zuwachs – und zwar in Gestalt eines Labradors als Therapiehund für Nikolaj!
Läuft mit, helft mit, auf diese seltene Krankheit aufmerksam zu machen und unterstützt mit Eurem Lauf die betroffenen Kinder!
*Das sind Tiger Eltern
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