Da habe ich mein Nachtlager nun schon in einer echten Traumhütte aufgeschlagen, und dann das! Ich krieg einfach kein Auge zu. Schlaflos rolle ich mich von einer Seite auf die andere. Gegen zwei Uhr greife ich zu meiner ultimativen Einschlafhilfe: In meinem Handy öffne ich den Mediaplayer und lasse mich rücklings in die Kissen sinken. Wenn ich schon nicht schlafen kann, kann ich meine Zeit auch sinnvoll nutzen. Durch die Dunkelheit klingt die sanfte Stimme einer fremden Frau, die mir die Geschichte einer jungen Amerikanerin erzählt, die allein und völlig unerfahren einen der härtesten Trails der Welt gelaufen ist. Das Buch trägt den Titel „Wild: From Lost to Found„. Es ist die Geschichte von Cheryl Strayed, die im Sommer 1995 über 1000 Meilen auf dem Pacific Crest Trail gewandert ist, einen über 4000 Kilometer langen Fernwanderweg von Mexiko bis Kanada.
Meine fünf Tage auf dem größtenteils ebenerdigen Pfad des Wolds Ways wirken dagegen wie ein kurzer Ausflug um den Block. Dennoch fühle ich mich dieser Frau verbunden. In uns spiegelt sich ein gemeinsamer Drang, einen Weg zu beschreiten, von dem wir so gut wie gar nichts wussten, als wir ihn betreten haben. Und dann immer weiter darauf entlangzumarschieren, bis es wehtut und wir am Ende ganz vergessen haben, warum wir eigentlich losgelaufen sind. Es spielt überhaupt keine Rolle, wie lang der Weg ist, die simple Freiheit des Unterwegsseins, des sich selbst genügenden Umherziehens ist so überwältigend, dass es alles in den Schatten stellt. Es gibt keinen triftigen Grund, auf Wanderschaft zu gehen, aber es gibt eben auch Gründe genug, es nicht zu tun.
Seit meiner ersten langen Wanderung habe ich Sehnsucht nach draußen, ein unstillbares Verlangen, das ganz plötzlich auftaucht und immer stärker wird, bis ich ihm nachgeben muss. So war es das letzte halbe Jahr gewesen. Jedes Mal, wenn an einem Samstagabend die Pub-Band „Three Little Birds“ von Bob Marley spielte, erinnerte ich mich daran, wie mir dieser Song damals auf dem Pennine Way Mut verliehen hat, wenn ich voller Verzweiflung mal wieder vor einem neuen Monsterberg stand. Die schmusigen Reggaeklänge sind mein Tapferkeits-Soundtrack. Lauthals singe ich an diesen Samstagen mit, schließe die Augen und dann verschwinde ich lautlos aus dem gut gefüllten Pub und bin wieder draußen. Weit weg und ganz nah bei mir. Unter dem Gewicht meines Rucksacks ächzend, glücklich und frei.
Nach wenigen Stunden leichter Döserei bin ich hellwach und Zweifel nagen an mir. Eigentlich hatte ich vor, um fünf Uhr bereits auf dem Wolds Way Richtung Norden zu marschieren. Laut Wanderführer muss ich heute eine Strecke von rund 42 Kilometern zurücklegen, um meine gebuchte Herberge in Ganton zu erreichen. 42 Kilometer! Ungefähr das Doppelte meines üblichen Pensums.
Als ich 16 war, bin ich mal 46 Kilometer an einem Tag durch das tschechische Riesengebirge gewandert. Danach konnte ich drei Tage meine Beine nicht mehr bewegen und lag mit hohem Fieber im Bett. Jetzt bin ich 38 und würde mich vermutlich nie wieder bewegen können. Außerdem hatte ich so gut wie nicht geschlafen und bis auf ein paar angenagte Müsliregel auch kaum noch etwas Essbares dabei.
Ich breite meine Karte auf dem Bett aus und versuche, mir auszurechnen, wo ich ein Stück des Trails überspringen kann, ohne das Gefühl zu haben, eine Hochstaplerin zu sein. In rund 20 Kilometer Entfernung entdecke ich eine Stelle, wo der Pfad eine Straße kreuzt und dann in ein Waldstück mündet. Perfekt. Jetzt brauche ich nur noch ein Taxi und los geht’s.
Als ich zum Frühstück im Café Platz nehme, frage ich Mike nach einer Empfehlung. Doch der junge Mann besteht darauf, mich höchstselbst nach Settrington Beacon zu chauffieren.
„Eine Taxifahrt würde dich locker 30 Pfund kosten. Das muss ja nicht sein. Bei der Gelegenheit kann ich mir gleich mal die Strecke ansehen und prüfen, ob sie fürs Radfahren geeignet ist.“
„Aber hast du hier nicht zu tun?“, frage ich ihn verwundert, denn immerhin ist er Betreiber eines ziemlich beliebten Bikercafés und die stehen bereits jetzt Schlange vor der Theke.
„Ach, ich habe genug Leute, die für mich arbeiten“, zwinkert er mir zu.
Ich bedanke mich überschwänglich und bestelle noch zwei Sandwiches für unterwegs. Während Mike den Wagen holt, packe ich zusammen. In der kleinen Kaffeeküche will ich noch schnell zwei Tassen abspülen und komme ins Gespräch mit einem älteren Pärchen aus Essex, das ganz verliebt in die Wolds zu sein scheint und regelmäßig zum Wandern und Vogelbeobachten nach Yorkshire reist. Sie plaudern munter auf mich ein und bestehen darauf, dass sie mein Geschirr später mit abwaschen. Eine herzallerliebste Geste, die mir wieder einmal vor Augen führt, wie groß und bedeutungsvoll diese kleinen zwischenmenschlichen Momente hier draußen erscheinen. Das liebe ich so sehr am Wandern. Jede Form von Unterstützung, jedes Entgegenkommen und sei es noch so winzig, erfüllt mein Herz mit so viel echter Freude.
Wir verabschieden uns mit guten Wünschen und während ich zum Auto laufe, spüre ich, wie sich meine Mundwinkel zu einem breiten Lächeln verziehen.
Auf der Ladefläche lümmeln zwei dickbäuchige Jack Russel in einem Zwinger. „Keine Sorge, die liegen da freiwillig den ganzen Tag rum“, erklärt mir Mike. „Sie sind ziemlich faul“, fügt er hinzu, als würde Faulheit gleichbedeutend sein mit einem unbegrenzten Aufenthalt in einem Kofferraum.
Ich schiebe meinen Rucksack neben den Käfig und schlüpfe auf den Beifahrersitz. Mike scheint es sichtlich zu genießen, mal ein wenig rauszukommen, auch wenn es nur eine kurze Fahrt sein wird. Als die weiten, von Morgentau benetzten Wiesen und Felder der Wolds an uns vorbeiziehen, erzählt er mir, dass er in Fridaythorpe geboren und aufgewachsen ist, eine Zeit lang in Neuseeland gelebt hat, und jetzt den Glampingplatz und das Café gemeinsam mit seiner Mutter betreibt. Er schuftet rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, aber seine Augen funkeln genug, um mir zu sagen, dass er diesen Landstrich und seine Arbeit liebt.
„Ich kann mich ja drum kümmern, mir mehr Auszeiten zu gönnen. Es liegt ja im Grunde nur an mir.“ Da sind wir uns einig. Wer sonst soll uns Zeit schenken, wenn wir es nicht selbst tun?
An einer Kreuzung fragt mich Mike nach der Richtung. Wir haben uns so stark verplappert, dass wir nicht mehr ganz sicher sind. Da ich auf die Schnelle wieder mal rechts von links nicht unterscheiden kann, halte ich ihm meine Karte einfach vor die Nase.
Wenig später stehe ich vor dem Eingang des Waldstücks von Settrington Beacon und winke Mike lächelnd zu, der im Wagen seiner Mutter mit den dicken Hunden im Kofferraum davonrauscht. In der kleinen Haltebucht neben dem Wegweiser steht ein weißer Van, in dem zwei Männer in Warnwesten ihr Frühstücksbrot verzehren. Mit einem leicht mulmigen Gefühl betrete ich den breiten Waldpfad, drehe mich noch ein paar Mal um, um mich zu vergewissern, dass mir die Männer aus dem Van nicht nachfolgen. Doch der Wald verschluckt mich ganz allein.
Der Name des Ortes deutet darauf hin, dass hier in der Nähe einst ein Beacon, ein römisches Signalfeuer brannte, das in einer eisernen Feuerschale hoch auf einem Pfahl etwa 200 Meter über dem Meeresspiegel Signale bis nach Scarborough und York weitergab. Das Feuer konnte dabei in einem Umkreis von 400 Quadratmeilen gesichtet werden. Es diente dazu, vor Invasoren, die über die Nordsee kamen, zu warnen. Nach Abzug der römischen Legionen war der Weg frei für die angelsächsischen Stämme, die nach Britannien drängten. Auch die Siedlung Settrington ist angelsächsischen Ursprungs. Ein klarer Indikator dafür ist der Name der Ortschaft. Während die frühen angelsächsischen Ortsgründungen noch oft nach dem entsprechenden Häuptling benannt wurden, tragen spätere Siedlungen bestimmte landschaftliche Merkmale im Namen. Das „ton“ in Settrington zum Beispiel hat die Bedeutungen „Eingezäuntes Dorf / Gehöft / Herrenhaus“. Fridaythorpe hingegen wurde von Dänen gegründet, „thorpe“ ist dänischen Ursprungs, und bedeutet Weiler oder kleine Siedlung, die von einer größeren Siedlung in der Nähe abhängig war.
Ich könnte mich stundenlang in der Geschichte der Orte verlieren, die ich durchquere, aber dazu müsste ich meine Wanderung auf mehrere Wochen ausdehnen.
Als ich das von morgendlichem Vogelgesang erfüllte Waldstück verlasse, folge ich einer verlassenen Landstraße Richtung Wintringham. Obwohl ich weiß, dass auf dem Wolds Way zum Teil hüfthohe Nesseln den Pfad überwuchern, schlüpfe ich am Straßenrand in meine Shorts. Schließlich haben wir Sommer und meine blassen Beine können durchaus etwas Farbe vertragen. Nur zwei Sekunden später fährt ein BMW an mir vorüber. Der Fahrer blickt neugierig zu mir herüber. Doch den Anblick einer halbnackten Hikerin am Straßenrand hat er leider knapp verpasst.
Nichtsahnend schlendere ich durch die Landschaft, vorbei an riesigen Bauerngehöften, auf mal ebenen, mal steinigen Wegen kreuz und quer über Ackerland und sanft ansteigende Hügelketten. In einem weiteren Waldstück begegne ich zwei sportlich herbeijoggenden jungen Damen. Eine der beiden trägt ein Superwoman-Shirt und stellt mir eine Frage, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt: „Willst du auf den Monsterberg raufklettern?“
Ich blicke sie verwundert an. „Wie, Monsterberg?“, frage ich mit weit aufgerissenen Augen.
„Naja, da kommt jetzt ein ziemlich steiler Aufstieg auf dich zu.“
Die andere blickt mich mitleidig an, lenkt ein und versucht, mich etwas zu beruhigen: „Also wenn du erstmal oben bist, lohnt sich das wirklich. Es ist auch nicht ganz so schlimm. Da sind überall Steine. Das klettert sich ganz gut.“
„Das hättet ihr mir jetzt nicht unbedingt sagen müssen“, entgegne ich vorwurfsvoll. Meine Laune war an diesem Vormittag bestens gewesen. Ich spüre, wie meine Schultern nach unten sacken.
Die beiden Frauen joggen weiter und ich fluche innerlich. Dieser verdammte Wanderführer! Lässt mich hier eiskalt auflaufen. Dann erblicke ich den hölzernen Wegweiser, der auf einen bewaldeten Gipfel weist. Ich folge dem Pfeil mit meinen Augen und schlucke. Nee, oder? Ein mit Kies und Schotter angefüllter Pfad führt in einem 80-Grad-Winkel auf einen extrem steilen Hügel hinauf.
Ich erinnere mich an meine fett belegten Käseschnittchen, die mir Mike am Morgen geschmiert hatte. Ich setze den Rucksack ab und lasse mich lustlos auf einem Baumstumpf nieder. Und dann tue ich etwas sehr Englisches. Ich verfeinere meine Mahlzeit mit einer Lage Tütenchips. Die knistern köstlich zwischen meinen Zähnen, als ich in das mit Schinken und Käse belegte Weißbrot beiße. Plötzlich halte ich inne. Mir fällt ein, dass ich für meine Wegzehrung gar nicht bezahlt hatte. Ich hatte die Sandwiches einfach so entgegengenommen und statt das nötige Kleingeld auf die Theke zu legen, habe ich die Brote genommen und wortlos in meinem Rucksack verstaut. Na toll, ich bin nicht nur unfähig, einen Berg heraufzusteigen, ich bin auch noch ein verdammter Ladendieb.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schalte den batterieschonenden Flugmodus aus. Dann versuche ich, so gut es geht, die beruflichen E-Mails zu ignorieren, die sich in meinem Postfach stauen. Mit zitternden Fingern tippe ich eine Nachricht an Mike, entschuldige mich für mein rüdes Vergehen und biete ihm an, die Kosten umgehend zu begleichen. Die geklauten Brote stopfe ich zurück in den Rucksack. Sie gehören mir ja nicht. Stattdessen lutsche ich an einem Traubenzuckerdrops und schieße sinnlose Selfies.
Ein paar Minuten später schreibt mir Mike zurück. Ich solle mir keine Sorgen machen und es mir einfach schmecken lassen. Er hätte ja auch dran denken können. Dann wünscht er mir noch viel Glück für meine Wanderung. Am liebsten hätte ich ihn durch die Luft gewirbelt. Was für ein netter Mensch!
Doch obwohl die Brote nun offiziell mir gehörten, habe ich keinen Hunger mehr. Ich schnalle den Rucksack an meinem Körper fest und stapfe auf meine Wanderstöcke gestützt den Hügel hinauf. Das heißt, ich krieche, meinen Rücken so weit nach vorne gebeugt, dass mein Gesicht fast den Boden berührt. Die Kieselsteine sind so rutschig, dass ich mich zusätzlich an Wurzeln und Ästen festkrallen muss, um nicht permanent bergab zu rutschen. Wer kam bitteschön auf die brilliante Idee, einen steilen Bergaufstieg mit Millionen kleiner Steine zuzuschütten, die nach unten wegrutschen, sobald man drauftritt? Entweder war das ein echter Fiesling, der Wanderer zutiefst verachtete, vielleicht selbst ein gescheiterter Hiker war oder es war ein Landschaftsplaner, dem physikalische Gesetzmäßigkeiten wie Gravitation völlig am A… vorbeigingen.
Wie auch immer, als ich völlig außer Puste der Todeszone gerade noch mal entkommen bin und oben ankomme, besänftigt sich mein Gemüt auf der Stelle. Ich befinde mich nicht nur auf einem sagenhaften Hügel mit Blick auf das Tal von Pickering, sondern auch noch mitten in einem Kunstwerk, das sich „Enclosure Rites“ nennt und eine Hommage an die Erforschung der Landschaftsarchäologie und -ökologie der Yorkshire Wolds darstellt. „Enclosure Rites“ ist das erste Werk, das im Rahmen des von VHEY (Visit Hull and East Yorkshire) initiierten Projekts WANDER entlang des Wolds Way in Auftrag gegeben wurde. In Zusammenarbeit mit lokalen Archäologen hat der Künstler Jony Easterby verschiedene Aspekte der reichen antiken Kulturlandschaft der Region erforscht. Während dieses Vorgangs wurden nördlich des geplanten Geländes auch zwei 3000 Jahre alte bronzezeitliche Grabhügel entdeckt.
Ein großer runder Teich symbolisiert als Teil des Kunstwerks die reiche und üppige Tierwelt der Yorkshire Wolds. Als ich nähertrete, erblicke ich im Wasser kleine schwarze Lebewesen mit langen Schwänzchen, die flink darin umherschwimmen. Es sind hunderte kleiner Kaulquappen. Seit meiner Kindheit scanne ich erfolglos jede Pfütze, an der ich vorbeikomme nach diesen winzigen faszinierenden Urformen des Lebens ab. Und hier planschen sie in freier Wildbahn in Massen herum. Als ich ungefähr zehn Jahre alt war, bin ich mit meinem Vater in unserer Ostberliner Plattenbausiedlung umhergestreift, um diese kleinen Gesellen einzusammeln. Auf dem Balkon haben wir sie in eine mit Wasser gefüllte Plastikschachtel umgesiedelt und sie täglich gefüttert und ihnen beim Wachsen zugesehen. Jeden Tag passierte etwas Neues. Aus dem kleinen Körper wuchsen nach und nach Beinchen und Ärmchen. Und eines Tages verwandelten sie sich in kleine Frösche und kehrten in die Natur zurück (oder stürzten über die Balkonbrüstung in die Tiefe). Ich war damals so fasziniert von ihrem Wachsen und den stetigen Veränderungen, dass es mir wie ein Wunder vorkam, das ich nicht entschlüsseln konnte.
Bis heute kann man mich für Stunden an einem Teich absetzen und ich empfinde höchstes Vergnügen darin, die kleinen Gesellen zu beobachten. An diesem Teich auf einem Knochenbrecher-Hügel mitten in den Yorkshire Wolds empfange ich dieses großartige Geschenk. Es ist so winzig, dass es ein Leichtes wäre, achtlos daran vorbeizugehen, aber in Wirklichkeit ist es das Bedeutsamste auf der Welt. Es ist das Leben in seiner reinsten Form, das mir hier in diesem flachen Gewässer begegnet. Eine Metamorphose, die seit Millionen von Jahren immer wieder aufs Neue abläuft. Für mich ist es gerade eine unerschöpfliche Quelle der Kraft.
Mit dem Finger tauche ich vorsichtig ins kühle Wasser und streichle sachte über einen der kleinen schwarzen Körper, ohne ihn zu berühren. Am liebsten würde ich hineintauchen in diese Welt, mich mitten hineinlegen in dieses Wunder. Doch ich lasse es sein, wie es ist und mache mich wieder auf den Weg.
Zu meiner Linken ziehen mehrere Dörfer an mir vorüber, West und East Heslerton und das etwas größere Sherburn. Auf einer riesigen Schweinefarm mit zahlreichen Vergnügungsanlagen und Hütten für das grunzende Getier, tollen kleine Ferkelchen auf ihren erschöpften Müttern umher. Das erste Mal, als ich auf dem Wolds Way an einem Schweinestall vorbeikam, habe ich mich zu Tode erschrocken. Den ohrenbetäubenden Schreien nach zu urteilen, wurden den Tieren dort bei lebendigem Leib die Ohren abgeschnitten. Doch es stellte sich heraus, dass die Tiere zur Fütterungszeit in arge Ekstase geraten. Gleich neben der Schweinefarm, die einen intensiven Landduft verströmt, schließt sich ein nobler Golfplatz an. Die von strengen Schweinearomen durchzogene Atemluft scheint den Erfolgen der lokalen Golfliga scheinbar keinen Abbruch zu tun.
Es ist erst vier Uhr nachmittags als ich am Greyhound Inn in Ganton eintreffe. Mein Zimmer liegt in einem Appartmentblock, das an ein amerikanisches Motel erinnert. Doch von innen gleicht es einem Palast. Mein Bett ist so riesig, dass darin meine ganze Familie Platz finden könnte und witzigerweise ist es mit derselben Bettwäsche bezogen, die auch in meinem Wäscheschrank liegt.
Nach einer ausgiebigen Dusche und dem Versuch mir mit einem an der Wand montierten Fönstab, aus dem ein seichter, 15 Grad kühler Windhauch weht, die Haare zu trocknen, mache ich mich auf in den Pub. Als einziger Restaurantgast des Abends suche ich vergeblich nach meinem Lieblingsgericht auf der Karte. „Wird denn Yorkshire Pudding in dieser Gegend überhaupt nicht angeboten?“, frage ich die Hausherrin enttäuscht.
„Doch, klar, das ist doch ein typisches Regionalgericht“, entgegnet sie mir aufgeregt.
„Naja, aber ihr bietet es ja auch nicht an.“
Hektisch blättert die junge Frau in der Speisekarte. „Tatsache, bieten wir gar nicht an“, gibt sie überrascht zu. „Ich könnte den Koch fragen, ob er dir einen zubereiten kann.“
Doch so viel Aufwand will ich jetzt auch nicht betreiben, lehne dankend ab und bestelle ein überteuertes Hühnchengericht. Dann lehne ich mich im Stuhl zurück.
Ich schlafe bereits tief und fest, als die Hausherrin einen dampfenden Teller vor mir abstellt. „Huch, da ist aber jemand müde.“ Sie lacht und ich erkläre ihr, dass ich den Wolds Way laufe und an meinem vorletzten Tag doch scheinbar recht knülle bin. Sie nickt verständnisvoll und erklärt mir, dass sie ihn eines Tages auch mal laufen wird. Dann lässt sie mich mit dem ungesalzenen Huhn allein. Diesen Satz habe ich jetzt auch schon hundert Mal gehört. „Irgendwann werde ich ihn auch mal gehen.“ Aus eigener Erfahrung weiß ich, irgendwann kommt nie. Wenn du dich nicht jetzt und gleich auf die Socken machst, wird das nie was.
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