Von Scheren im Kopf, inneren Zensoren und Verschwörungstheorien

Das Internet ist ein schöner bunter Platz. Frei zugängliche Information schwirrt herum, ganz gleich, ob sie nun der Wahrheit entspricht oder nicht. Und was ist überhaupt Wahrheit? Glaubt nicht jeder, was er glauben will? Und lohnt sich im Dschungel von Verschwörungstheorien und einem Marktplatz voller Hassparolen noch Überzeugungsarbeit?

Seit einem knappen Jahr bin ich in einer politischen Mailingliste mehr oder weniger aktiv. Ein ruhiger Ort, den man manchmal monatelang vergisst, denn kaum jemand interessiert sich für Politik und redet darüber. Abgestumpft sind die meisten Menschen, ausgeliefert jenem mächtigen Gefühl, ohnehin nichts ändern zu können. Allerdings gibt es da einen, der immer wieder Links zu sogenannten kritischen Seiten postet, zu Seiten, die, so der interessierte Polit-Netz-Aktivist, jenseits des Mainstreams und unserer von Medien und durch Erziehung eingeschränkten Weltsicht die Aufmerksamkeit auf den wahren Zustand unserer Welt lenkten. Unsere erste Diskussion hatten wir, als er die Argumente der sogenannten kommissarischen Reichsregierungen in der Mailingliste verbreitete. Deren krude und verquere Argumentation, Hitler-Deutschland bestehe noch fort, und das werde nur von den Machthabern verschleiert, wurde mit vielen Rechtsdokumenten scheinbar unterfüttert. Ich hatte mich vor ein paar Jahren schon einmal damit befasst. Es gibt in der Argumentation immer einen Punkt, für den es keinen Beleg gibt. Beispiel: “Der US-Außenminister habe auf einer Konferenz im Juli 1990 die BRD und die DDR für aufgelöst erklärt.” Zu einer Menge Urteilen und Gesetzen vorher gab es einen Link mit Zitaten, aber dieses Detail musste man einfach glauben. Oder es wurden mal schnell Daten vertauscht, wann ein Vertrag verabschiedet, beschlossen oder ratifiziert wurde, und wann er formaljuristisch in Kraft trat. Daraus wurden dann den Behörden der BRD alle Befugnisse abgesprochen. Wir haben lange über dieses Thema debattiert, und wenn ich meinen Diskussionspartner vielleicht auch nicht vollständig überzeugen konnte, ich glaube, wir erzielten ein recht gutes Einvernehmen. Seine Hauptquelle für “kritische Beiträge” ist das Blog “Alles Schall und Rauch” des schweizer Bloggers Freeman.

Neulich aber kamen neue Links. Sie verwiesen auf das Lupo-Cattivo-Blog, auf eine Serie über die Weltdiktatur des Rothschild-Imperiums und eine Serie über gezielte Desinformation durch die Massenmedien. Natürlich habe ich sofort an den Nationalsozialismus gedacht, noch bevor ich in die Texte hineingelesen habe. Nicht alle Juden, so heißt es in den Texten sinngemäß, sind böse, sondern nur die Zionisten, rund 1 % der Juden, die sich hinter einer Mauer von 99 % Ahnungsloser versteckten, die schon nicht angegriffen werden dürften wegen des Holocaust. Angedeutet wird auch, dass das mit dem Holocaust nicht so schlimm sein könne, die New York Times könnte ja schon seit 1942 darüber gelogen haben, sie sei ein führendes Instrument der Weltdiktatur der Rothschilds, oder des Komitees der 300, des Weltsozialismus, der Bilderberger oder wie auch immer man sie nennen mag.

Viele Menschen werden nun sagen: “Warum befasst du dich überhaupt damit? Verschwörungstheoretischer Schwachsinn!” Aber genau das ist es. Mein Gesprächspartner meinte, wir dürften ja nicht über das “internationale Finanzjudentum” oder die “Protokolle der Weisen von Zion” debattieren, wir müssten befürchten, im Gefängnis zu landen. Deshalb sei die Schere schon im Kopf eingebaut, wir trügen den inneren Zensor mit uns herum, kritische Meinungen wollten wir gar nicht wahrnehmen. Und er fühlt sich durch die Meinung über Verschwörungstheoretiker bestätigt, wenn sich die Leute einfach von ihm abwenden. Also tue ich es nicht! Ich diskutiere und rede mit ihm, eben weil ich keine Schere im Kopf haben will, weil ich den inneren Zensor ablehne!

Doch wie soll ich mit dieser Meinung meines Gesprächspartners umgehen? Es hilft nicht, einfach seine Meinung zu verteufeln, es wäre – zurecht sogar – das Ende des Gesprächs. Sachliche Argumente aber lassen sich gegen eine solche Weltverschwörung nicht vorbringen, ohne dass das Gehirn einen Overload produziert. Dabei hätte ich sie, aber es wäre schon ungeheuer schwierig, sie meinem Gesprächspartner zu präsentieren.

Vor ein paar Wochen habe ich eine tägliche Zeitung aboniert. Erstmals in meinem Leben. Es ist die TAZ, eine zugegeben linksgerichtete Zeitung, natürlich keine kommunistische oder sozialistische, aber ganz offen eine linksgerichtete. Würde ich versuchen, meinem Gesprächspartner Artikel und Informationen aus dieser Quelle entgegen zu halten, so würde er sagen, dass dies bereits eine vom System infiltrierte Mainstream-Meinung ist. Das heißt: Es werden bereits keine anderen als die eigenen Quellen mehr akzeptiert. Das hilft natürlich auch, keine anderen Meinungen an sich heran kommen lassen zu müssen. Und es hilft, die Welt nicht komplizierter machen zu müssen, als das Weltbild der Rechten sie braucht. Der innere Zensor, den diejenigen von uns vorgeworfen bekommen, die sich zumindest auch aus sogenannten Mainstream-Medien informieren, tragen die Rechten in Wahrheit selbst, denn sie akzeptieren nur ihre Quellen. Eine echte Gegenüberstellung findet nicht statt. Dass sie mir im Falle der sogenannten kommissarischen Reichsregierungen dennoch einigermaßen gelang, grenzt fast an ein Wunder. Ob mein Gesprächspartner sich beeindrucken lässt, wenn ich ihm sage, dass die TAZ nicht durch einen Medienkonzern, sondern von einfachen Bürgern gegründet wurde, eben mit dem Ziel, eine kritische Stimme zu sein?

Natürlich ist es einfach, sich die Welt in einem schwarz-weiß-Schema zu erklären, aber genau so einfach ist es, jeden, der sich von den schlagkräftigen Parolen von rechts angezogen fühlt, einfach für einen Spinner zu halten und abzuschreiben. Dann kapitulieren wir vor den Rattenfängern einer scheinbar einleuchtenden Ideologie. Und wir sollten auch nicht alle Argumente der Anderen von vorne herein ablehnen. So bin ich mir sehr sicher, dass die Bilderberg-Konferenzen mehr sind als rein private Treffen.

Ich habe in der TAZ zum Beispiel einen ausführlichen Artikel über die öffentlich-privaten Partnerschaften gelesen. Einen Artikel, in dem durchaus hart und engagiert sachlich die Ausbeutung öffentlichen Eigentums und der Steuergelder durch die Großindustrie angeprangert wird. Dazu muss man nicht das Haus Rothschild und das Finanzjudentum bemühen. Aber die Verflechtungen sind natürlich auch nicht so einfach zu durchschauen. Mit einem übermächtigen Geheimbund als Gegner ist das Leben nicht nur spannender, man ist auch aussichtsloser im Kampf gegen die Weltregierung, und man muss nicht tiefer in die wahren, komplizierten Zusammenhänge einsteigen. Eine Welt von 7 Milliarden Menschen wird nicht von 300 Bilderbergern regiert, und warum sollten ausgerechnet Syrien und der Iran derzeit außerhalb dieser Regierung stehen, als heldenhafte letzte Vertreter einer freien Welt? Das klingt absurd, doch mein Gesprächspartner würde sagen, dass es nur deshalb absurd klingt, weil wir uns keine sogenannten abwegigen Meinungen mehr erlauben.

Die Rechten sind immer Opfer, das ist eine weitere These. Beispiel Fernsehdebatte. Wenn dann mal ein Mensch mit einer anderen Meinung zugelassen werde, dann einer, der sich nicht gut ausdrücken könne, und man setze ihm eloquente Linke entgegen, die ihn in Grund und boden redeten. Dass die größten Medienkonzerne rechtsgerichtet sind, fällt offenbar überhaupt nicht ins Gewicht.

Für mich ist dieser halb offene Antisemitismus erschreckend, der sich in die Mitte der deutschen Gesellschaft gefressen hat. Intelligente, sympatische Menschen diskutieren den Begriff “Antisemitismus” sprachgeschichtlich weg, weil er nicht nur die Juden betrifft. Und statt der Juden hasst man nur die Zionisten, also die mächtigen weltvergifter, die sich hinter den Ahnungslosen verstecken, aber kaum von ihnen zu trennen sind. Dies geht in intelligenten Köpfen vor. Wie mag es erst an den Stammtischen zugehen? Sie werfen uns vor, Israel nie zu kritisieren, und dabei lassen sie einen Großteil der Geschichte einfach aus. Es waren die linken Terroristen der RAF, die die Juden als Feinde begriffen haben, weil sie die Araber unterdrückten, die sozialistischen Brüder der RAF. Gleichzeitig verurteilte dieselbe Generation ihre Väter wegen der Nazigreuel. Und auch ich, der ich eine linke Zeitung lese, kann Israel scharf kritisieren, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und trotzdem bin ich vergiftet durch den inneren Zensor, habe ich eine Schere im Kopf, trage ich einen Maulkorb. Warum? Weil ich Gewaltparolen aus Prinzip ablehne? Weil meine Toleranz da endet, wo der Hass auf andere Menschen beginnt? Weil ich keine Zweifel an der nationalsozialistischen Massenvernichtung der Juden habe? Was würden die Verschwörungstheoretiker wohl sagen, wenn man ihnen die Tonaufnahme Adolf Eichmanns präsentiert, in der er sagt, er hätte auch 11 Millionen vernichtet, wenn er es vermocht hätte? Würden sie es als Fälschung abtun, weil es nicht in ihr Weltbild passt?

Nein, ich habe keinen inneren Zensor. Ich lese rechte wie linke Meinungen, und ich bilde mir meine eigene. Der innere Zensor ist dort zu finden, wo alles, was nicht ins einseitige und unkomplizierte Weltbild passt, schon von vorne herein als Lüge abgetan wird, als Mainstream, als vom Rothschild-Imperium initiiert und ausgebrütet. Das ist keine kritische Meinung mehr, das ist Völkerhass.

Und doch würde ich gern die Menschen überzeugen, die in ihrer Verzweiflung nach einer einfachen Erklärung suchen, denen einfach einleuchtend erscheint, was mit wenigen Worten gesagt ist. Aber wer die Welt komplizierter macht, der hat es leider viel schwerer als die Rattenfänger der Rechten.

P. S.: Im Bezug auf einige der Links in diesem Artikel bitte ich, auf mein Impressum zu achten. Ich distanziere mich ausdrücklich von volksverrhetzenden Inhalten und bin in keiner Weise für sie verantwortlich oder teile diese Ansichten.


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