Seit der Krise in der Ukraine werde ich regelmäßig danach gefragt, was ich darüber denke.
Meine Antwort: Ich rede nicht über Politik.
Geboren und aufgewachsen in Russland, bin ich zur Hälfte Ukrainerin, und so sind beide Länder ein Teil von mir, doch auch das spielt wenig Rolle bei der Frage nach der Lage in der Ukraine, denn
ich finde alle Kriege doof.
Und: Ich bin gern in Russland (meistens in meiner Heimatstadt St. Petersburg, und wenn ich „Russen“ schreibe, meine ich die Bewohner dieser wunderbaren Stadt).
Weil ich schon sehr lange in Deutschland lebe, fallen mir in Russland zuerst immer zwei Sachen auf: wie chaotisch und wie unpünktlich die Menschen hier sind. Wenn ich mich bei diesem Gedanken ertappe, weiß ich, ich bin ganz schön deutsch geworden. Denn eine Verspätung von 45 Minuten ist in Russland im privaten Rahmen normal und wird selten als Unpünktlichkeit aufgefasst.
Wenn die Russen aufeinander warten, lesen sie meistens. An jeder U-Bahn Station, auch in den unterirdischen Übergängen zwischen den Stationen gibt es Zeitungskioske, die auch Bücher verkaufen. Ein Buch kostet ungefähr zwei Euro.
Früher waren Bücher nicht unbedingt teuerer, aber gute Bücher gab es nicht überall zu kaufen, und ich kann mich daran erinnern, dass es bei meinen Eltern so etwas wie Gehaltsprämie in Form von Büchergutscheinen für bestimmte Bücherserien gab. In unserer Wohnung mit vier Meter Decke und Stuck waren die meisten Wände von unten bis oben mit Bücherschränken verkleidet.
Wenn man Russen über die Sanktionen und die Krim fragt, lautet die Antwort meistens ziemlich deutlich:
Die Krim gehört zu uns.
Die Sanktionen treiben den Dollar- und Eurokurs in die Höhe (ein gutes Argument für eine Reise nach St. Petersburg!). Steigender Dollarkurs und niedriger Ölpreis sind für viele Unternehmer und Bauherren eine Katastrophe, denn immer noch werden viele Vertragssummen in einer westlichen Währung zum tagesaktuellen Kurs abgeschlossen.
Darüber hinaus tun die Sanktionen Russland richtig gut. Ja, das meine ich ernst. Wenn es keinen Parmesan-Käse mehr gibt, weil die Lieferungen aus Italien eingestellt wurden, dann wird eben lokale Produktion hochgefahren. Meine Mutter, Käseliebhaberin durch und durch, behauptet, dass der neue lokale Käse viel besser geworden ist, seit die finnischen Nachbarn nichts mehr liefern dürfen. Überall sprießen Marken hoch, die jetzt eine Chance haben, gegen das gigantische Marketing der ausländischen Großkonzerne anzutreten und sichtbar zu werden. Manche wünschen dem Land sogar, dass die Sanktionen noch 2-3 Jahre andauern, dann wird die lokale Produktion stabil laufen.
Die Tatsache, dass Russen Krisen gewohnt sind, lässt sie erfinderisch werden. Hier sind ein paar Dinge, die ich in meiner alten Heimat lernte:
Sei gut vernetzt
Russen sind ständig am kommunizieren. Chatten, telefonieren, sich verabreden, gemeinsam irgendwohin fahren, Foren füllen, Meinungen teilen. Wenn man sich in St. Petersburg Sushi bestellen möchte, ruft man einfach paar Leute an und fragt, ob jemand etwas Gutes kennt. 10 Minuten später gibt es mehrere Rückrufe, weil jemand, der jemanden kennt, jemanden anders kennt, und der sagt … Das Gleiche gilt für Ärzte, Autowerkstätten und so weiter. Ein schlechter Service oder ein schlechtes Produkt hat in diesem Netzwerk kaum eine Chance.
Sei geduldig
Krise kommt, Krise geht. Wer zu schnell aufgibt, verpasst unter Umständen die nächste gute Welle und kann dann nicht mitsurfen. Galgenhumor gibt es hier kaum. Eher ein entspanntes Lachen über sich selbst. Die Russischen Comedy-Stars haben oft einen überdurchschnittlichen IQ und erklären die politische und ökonomische Lage der Nation besser als jede Nachrichtensendung. Als Russe lernt man schnell, sich Vorräte anzulegen und aus wenig viel zu machen. Grundgelassen und geduldig ertragen die Russen ihre Regierung, die schlechten Straßen und die vielen Veränderungen. Nicht auszumachen, was passieren würde, wenn sie diese Geduld nicht hätten und alle auf die Barrikaden gehen würden…
Sei bescheiden
Wer sich keinen hohen Lebensstandard aufbaut, der kann nicht tief fallen. Die „normalen“ Bürger der nördlichsten Großstadt Europas fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln und essen kein Kaviar zum Frühstück. Dennoch ist das neue Ballett ausverkauft (Ticket im Parterre: 120 Euro). Wie machen sie das, frage ich meine Mutter. Die richtigen Prioritäten setzen, sagt sie. Vielleicht weil es hier keine Tschibo-Shops in jeder Supermarkt-Filiale gibt, sparen die Russen sich das Geld für etwas Schönes und geben es nicht für bunte Haushaltsgegenstände aus. Geburtstage werden meistens in den großen russischen Wohnküchen gefeiert, die Gäste bringen Salate, Süßes zum Tee und Getränke selbst mit, so ist ein Tisch schnell mit Leckereien gefüllt und das Geburtstagskind muss nicht in der Küche stehen.
Sei ästhetisch
Vielleicht hängt es mit der Schönheit dieser Stadt zusammen – die Menschen hier sind wunderschön anzusehen! Russinnen sind ja sowieso die schönsten Frauen der Welt, da gibt es nichts zu diskutieren ;-) Um mit ihren weiblichen Zeitgenossinnen mitzuhalten, geben die russischen Männer einiges! Ob Frisur, Mützen, ausgefallene Jeansmarken, wildgemusterte Hemden, glänzende Jacken oder Accessoires – so eine Vielfalt von sich zurecht machenden Herren habe ich bisher nur in Miami angetroffen. Übrigens finden es die Russen witzig, dass es in Deutschland neuerdings so viele Bartträger gibt. Seit Peter der Erste das Tragen von Bärten am Hof per Gesetz verboten hat, sind Bärte in Russland ein Zeichen für Landei – und nicht für moderne Großstadt wie Berlin.
Sei vielseitig
Wohin man fragt, haben die meisten Menschen mehrere Berufe oder Tätigkeiten. Mal etwas saisonales dazu, mal etwas, was man am Wochenende macht, dann etwas mit Frühstücks-Klub, das sei in Russland richtig wirksam. Dazwischen irgendein relativ stetiger Job. Die russische Werbung ist erfrischend frech, die Großstadtmenschen sind wählerisch und ungeduldig zugleich. Wenn ein Stuhl von IKEA in einem russischen Kinderzimmer zu schnell kaputt geht, muss IKEA ein neues Produkt speziell für kräftige russischen Kinder erfinden. Kaum waren Mc. Donald Restaurants populär geworden, wurden sie von mehreren russischen Fast Food Ketten mit original russischer und größtenteils viel gesünderen Küche platt gemacht. Russen sind wunderbare und sehr ausdauernde Problemlöser, die ein „nein“ nicht akzeptieren wollen und so lange nach einer Lösung suchen, bis sie eine finden. Vielleicht liegt es daran, dass diese Menschen in einem Land aufgewachsen sind, das zwei Weltkriege gewonnen hat. Das prägt, ganz sicher.
Sei Familienmensch
Zusammen arbeiten, zusammen verreisen, zusammen viel Zeit verbringen. Während ich die Besuche bei den Eltern in Deutschland oft eher als „Empfang“ empfunden habe, zu dem man sich hübsch anzeigen musste und bei dem man sich artig benehmen muss, erinnert mich die Zusammenkunft der russischen Familien oft an Erdmännchen. Alle passen aufeinander auf, helfen einander, bekochen sich gegenseitig, leihen sich gegenseitig Geld, und alle fühlen sich wohl und entspannt. Kinder – egal welchen Alters – können Kinder sein, gleichzeitig werden Eltern mit viel Respekt behandelt. Das ist einer der Gründe, warum ich gern zu meiner Familie nach Russland fahre – da kann ich auch unter vielen Menschen einfach ich sein.
Meine Neffen und Nichten laufen um mich herum. Zusammen mit mehreren Generationen feiern wir Sylvester. Es gibt – mitgebrachte – Salate, Fisch und Kaviar. Als Anekdote der Familie wird erzählt, wie der kleine Felix, nachdem er zum ersten Mal vom schwarzen Kaviar probiert hat, wochenlang geschimpft haben soll, wie schlecht dagegen der rote sei.
Statt Neujahrsspaziergang machen wir zu acht eine Stadtrundfahrt in einem Doppeldeckerbus. Bei Minus 15 Grad und strahlendem Sonnenschein kann ich es selbst kaum glauben, in so einer wunderschönen Stadt aufgewachsen zu sein.
Hier sind ein paar kurze Impressionen: