„Patriotismus ist die Tugend der Boshaften“ Oscar Wilde
„…Der Umstand, dass die Deutschen die Nachkriegsdemokratie nicht im Aufstand gegen Hitler erkämpft haben, sondern sie aus den Händen ihrer „Besatzer“ entgegennahmen, also von oben verabreicht bekamen, hat bis in die Gegenwart spürbare Folgen. Zumal auch die ökonomischen Verhältnisse, die den Faschismus hervorgebracht haben, unverändert blieben. Mit dem Wiederaufbau der Städte und Fabrikationsanlagen wurden auch die alten Produktions- und Eigentumsverhältnisse wieder hergestellt. Demokratische Verkehrsformen wurden von vielen nur notdürftig und oberflächlich Entnazifizierten als Teil jener alliierten „Umerziehungsmaßnahmen“ wahrgenommen, die die Deutschen als Quittung des „Zusammenbruchs“ und als Folge ihrer Niederlage über sich ergehen lassen mussten. Leidlich akzeptiert wurden sie erst, als das „Wirtschaftswunder“ ein Arrangement mit ihnen erleichterte und versüßte. Wenn in Zeiten wirtschaftlicher und sozialer Krisen die Prämien für angepasstes Verhalten ausbleiben oder spärlicher werden, liegen deswegen in Deutschland unter einer dünnen Schicht zivilisierter Verhaltensweisen alte Denk-, Gefühls- und Vorurteilsgewohnheiten immer bereit. Zeiten allgemeiner Verunsicherung lassen quasi reflexartig das Bedürfnis nach Sündenböcken ins Kraut schießen, die man für die eigene Misere verantwortlichen machen kann.
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Das Verheerendste an der gegenwärtigen Pegida-Diskussion ist, dass sich im Schlagschatten von Pegida und weit über diese hinaus eine Codierung sozialer Zugehörigkeit herausbildet, die festlegt, wer „zu uns gehört“ und wer nicht. Die im „Zugehen auf Pegida“ und beim Versuch, „die Beweggründe der verängstigten Bürger zu verstehen“, getroffene Unterscheidung zwischen „guten Flüchtlingen“, die beruflich gut qualifiziert sind und unseren Fachkräftemangel beheben helfen, und „bösen Flüchtlingen“, die nur kommen, „um Straftaten zu begehen, von unseren Sozialsystemen zu profitieren und uns auszunutzen“, hat fatale Folgen. Diese Unterscheidung findet Anschluss an die uralte zwischen „ehrlichen“ und „unehrlichen“ Armen, die tief in der arbeitsgesellschaftlichen Moderne und im kollektiven Gedächtnis verankert ist. Jenen kann staatliche und kirchliche Hilfe zuteil werden, diesen muss man ihre Faulheit mit purer Härte austreiben. Solche Codierungen legen fest, wen wir als „Unsereiner“ begreifen und in wen man sich einfühlt und wem als „nicht zu uns gehörend“ jedes Mitgefühl verweigert werden kann. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt, dass die Lage derer, die als nicht-zugehörig definiert werden, prekär ist. Sind bestimmte Gruppen von Immigranten erst einmal als unnütz, unerwünscht, nicht zur eigenen Gruppe gehörig markiert, ist es, wie Harald Welzer gezeigt hat, „nur noch eine graduelle, keine prinzipielle Frage mehr, wie mit den Nicht-Zugehörigen zu verfahren sei“. Immer wenn sich solche Unterscheidungen gesellschaftlich etablieren, ist äußerste Wachsamkeit geboten, weil sich in ihrem Schatten rabiatere Umgangsformen anbahnen. Aus stigmatisierten Fremden werden schnell Gegenmenschen, Feinde, die „uns die Luft zum Atmen nehmen“ und „unsere Kultur“ bedrohen, und die im Namen der Wir-Gruppe beseitigt werden müssen. Diejenigen, die auf „die Ängste der Bürger“ eingehen wollen, verhalten sich wie ein Psychotherapeut, der sich anschickt, eine Spinnenphobie durch Ausrottung der Spinnen zu behandeln. Bereits in den frühen 1990er Jahren hat man den damals grassierenden Hass auf Einwanderer und Flüchtlinge zum Anlass genommen, die Asylgesetzgebung zu verschärfen.
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Demokratie ist nur möglich mit demokratischen Bürgern, die auch in krisenhaften Zeiten erwachsen bleiben und nicht auf primitivere Mechanismen der psychischen Regulation zurückfallen, die angesichts von gesellschaftlichen Turbulenzen und neuartigen Situationen nicht in Panik verfallen. Die Fähigkeit, sich in andere einfühlen zu können, hat in Deutschland nie zu den öffentlich geförderten Tugenden gehört. Sie wäre aber das einzig wirksame Gegengift gegen einen Rückfall in Barbarei, Rassismus und Xenophobie. …
Schließlich möchte ich noch einmal betonen, dass mein Hauptanliegen war und ist zu zeigen, dass der Nationalsozialismus kein Randgruppenphänomen gewesen ist, sondern aus der Mitte der Gesellschaft hervorgewachsen ist und dort seine Massenbasis hatte. Primo Levi, der als italienischer Jude eine Jahr in Auschwitz-Monowitz interniert und als Chemiker zur Sklavenarbeit in den Buna-Werken eingeteilt war, hat nach seinem Überleben geschrieben: „Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“ Im Zuge der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse hat man die Angeklagten von Psychologen untersuchen lassen. Erwartet hatte man, dass sich Abgründe von Psychopathie auftun würden, dass man eine allen Nazis eigentümliche krankhafte Persönlichkeitsstruktur entdecken würde. Das Resultat der gründlichen Exploration von Göring, Hess, Speer, Frank, Streicher und anderen war deshalb für viele erschreckend und verblüffend: Man fand keine krankhaften Besonderheiten, sondern stieß auf eine kompakte Normalität. Der Gerichtspsychologe Douglas Kelley resümierte: „Aus unseren Befunden müssen wir nicht nur schließen, dass solche Personen weder krank noch einzigartig sind, sondern auch, dass wir sie heute in jedem anderen Land der Erde antreffen würden.“ 1961 sagte ein Gutachter über Eichmann, dass er normal sei, „normaler jedenfalls, als ich es bin, nachdem ich ihn untersucht habe.“ Die etwa zeitgleich durchgeführten Milgram-Experimente haben diesen Befund bestätigt: Die Testpersonen waren unter bestimmten Bedingungen fast alle zu fast allem fähig. Arno Gruen hat folgerichtig vom „Wahnsinn der Normalität“ und von „Normopathen“ gesprochen. Halten wir fest: Bürgerliche Normalität schützt vor gar nichts, nicht einmal vor grauenvollsten Verbrechen…“
Erschienen unter dem Titel: „Ohne Angst verschieden sein können“ – Zum 70. Jahrestag an dem Ausschwitz von Soldaten der Roten Armee befreit wurde. Von Götz Eisenberg.
Quelle und gesamter Text: http://www.nachdenkseiten.de/?p=24762