Es ist der Tag nach den Anschlägen auf Paris, ein ungewöhnlich sonniger, warmer Herbsttag. Das Rheintal zeigt sich von seiner idyllischen Seite. Es ist friedlich hier, sauber, ruhig und schön. In unseren Hinterköpfen bleiben trotzdem die Nachrichten. Und dann dieser Satz, im Museumssaal hoch oben über dem Fluss: „Wir vergaßen auf Augenblicke die qualmende Sinnlosigkeit brütender Trümmerwelt des Krieges.“ Die Kunst hilft, die Realität zu bewältigen, davon war der Bildhauer, Maler und Dichter Hans Arp überzeugt. Und seine Realität war oft eine grausame, feindliche. Unter den Nationalsozialisten als „entarteter Künstler“ verfemt und verfolgt, lebte er viele Jahre heimatlos im Exil. Noch während des Krieges verlor er seine geliebte Frau Sophie Taeuber-Arp durch einen tragischen Unfall – ein Schock und ein Verlust, von dem er sich lange nicht erholte.
„Tanzgeschmeide“ mit Blick auf den Rhein
1886 in Straßburg geboren, wurde Hans Arp früh deutsch-französisch sozialisiert und wahrscheinlich schon allein deswegen gegen jeglichen Nationalismus immunisiert. Nach seinem Kunststudium in Weimar und Paris zog es ihn in die Schweiz, wo er Kontakte zur Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ knüpfte und zum Mitbegründer des Dadaismus wurde. Es war das Kriegsjahr 1916 und Arp, der überzeugte Pazifist, weigerte sich, in den Krieg zu ziehen. Stattdessen lebte er ein umtriebiges Künstlerleben zwischen Deutschland und Frankreich, im Zentrum all der wilden Veränderungen der Zeit, der Kunst. In Arps Sichtweise war der Dadaismus ein Aufbegehren der Künstler gegen alles Traditionelle, Althergebrachte, Festgelegte in der Kunst und die Suche nach neuen Wegen und (Ausdrucks-)Formen. Er selbst entwickelte eine Vorliebe für die einfachen, elementaren Formen:, Wolken, Nabel, Wirbel. Es gab für ihn keine scharfe Trennung zwischen Mensch, Ding und Natur. Alles ist eins, fließt ineinander.
Hans Arp, Coquilles (Muscheln), 1938, Foto, Mick Vincenz
Aus Zeichnungen und kleinen Reliefs entwickelten sich mit der Zeit große sockellose Skulpturen wie das „Tanzgeschmeide“ oder die „Muschel“. Bekannt sind vor allem seine schmeichelnden, weichen, fließenden Bronzegüsse, viel auch für Inneneinrichtung und Dekoration genutzt. Hans Arp war aber nicht nur bildender Künstler, sondern auch Dichter. Für ihn gab es eine untrennbare Verbindung von Dichtung und Kunst, Wort und Form. Bekannt wurde vor allem seine dadaistische Sammlung von Textcollagen, „Die Wolkenpumpe“. Darüber hinaus war Arp ein „sozialer“ Künstler – er glaubte an das Werk an sich und arbeitete daher häufig anderen Künstlern zusammen an gemeinsamen Projekten. Viel hat er diese gemeinsame Urheberschaft mit seiner Frau Sophie Taeuber-Arp praktiziert. Profitiert – auch das muss man sagen – hat vor allem er davon, zumindest was den Ruhm anbetrifft. Sophie Taeuber-Arp war vor allem als Innenarchitektin erfolgreich, ihr umfangreichstes Projekt war die Umgestaltung des militärischen Zweckgebäudes „Aubette“ in Straßburg in ein mehrstöckiges Kunst- und Vergnügungszentrum.
1940 stuften die Nationalsozialisten Hans Arp als „entarteten Künstler“ ein. Das bedeutete de facto ein Berufsverbot und Schikane, wenn nicht Verfolgung. Das Ehepaar Taeuber-Arp ging ins Exil, erst nach Frankreich, dann in die Schweiz. Unter diesen Bedingungen war die künstlerische Arbeit erschwert. Es gab keinen Raum, keine Materialien. Hans Arp malte daher mit den Fingern und schuf Werke aus zerknittertem Papier. Sophie starb 1943 im Haus eines Freundes an einer Kohlenmonoxidvergiftung. Ob es ein Unfall war, ist bis heute ungeklärt. Bekannt ist nur der Riss, den dieser Verlust in Arps Leben und Werk hinterließ. Als bildender Künstler stürzt er zunächst ins Schweigen, in den nächsten Jahren schafft er nur Texte, Gedichte. Nach dem Krieg gelang ihm schließlich der internationale Erfolg, der ihm bis dahin verwehrt geblieben war. Das MoMA in New York widmete ihm eine große Ausstellung und er nahm an mehreren documentas teil. Nach seinem Tod im Jahr 1966 erhielt er das Bundesverdienstkreuz der BRD.
Hans Arp, o.T., 1947 (Papiers déchirés, nach Grafiken von Duo-Zeichnungen aus dem Jahr 1939), © für die Werke von Hans Arp: VG-Bild-Kunst Bonn, Foto: Mick Vincenz
Dreißig Jahre später gründete der Galerist Johannes Wasmuth aus einem Teil des Nachlasses, der ihm von Arps zweiter Ehefrau Marguerite Arp-Hagenbach übertragen wurde, das Arp Museum im Bahnhof Rolandseck in Remagen bei Bonn. (Es gab viele Jahre Streit um diesen Nachlass, der zu Zerwürfnissen der beteiligten Institutionen und einem mehrjährigen Ausstellungsstopp führte. Mehr dazu hier.) Dieses klassizistische Bahnhofsgebäude hat seine eigene Geschichte, die ihm Kaiserreich beginnt. Schon damals war der Bahnhof ein Treffpunkt der Gesellschaft und Ort der Künste. Hier gaben sich Adlige und Politiker ein Stelldichein, aber auch Künstler wie Heinrich Heine, die Brüder Grimm, Johannes Brahms und Clara Schumann. An dieses Leben wurde in den 1960er-Jahren wieder angeknüpft, der Bahnhof wurde erneut zum Kunstort. Vielleicht ist auch er ein Ort des Trotzes, des Immer-wieder-Aufstehens der Kunst nach allen vermeintlichen Toden, aller Zerstörung. Die umfangreiche Sammlung, die Wasmuth von der Familie Arp überlassen bekommen hatte, fand hier allerdings keinen angemessenen Platz. So entstand die Idee für den spektakulären, konstratierenden Neubau von Richard Meier, der wuchtig vierzig Meter über dem Bahnhof auf oder eher am Berg thront.
Der weiße Bau ist ein Kontrapunkt, ein offensichtlich bewusster Stilbruch, aber er fügt sich zugleich auch beziehungsreich in diese seltsame, teils absurd unrealistisch wirkende Landschaft des Rheingaus ein. Eine mächtige Burg nach der anderen thront über den mal schroffen, mal sanften Bergen am Ufer des Flusses – in eben derselben Haltung wie das Museum, dem gewissermaßen letzten Vorposten, bevor es in die Ebene geht. Diese Landschaft wurde tausendfach zitiert, verklärt und mystifiziert, auch missbraucht. Und hier oben stehen sie nun also im Licht – die Werke des Verfemten und Verbannten. Man erreicht den Neubau von unten aus nur durch einen Tunnel, der in den Berg führt. Mit großen Glasflächen und wiederholten Einschnitten in die klotzigen Wände werden vielfache Bezüge zur umgebenden Natur hergestellt. Dann geht es nach oben, in den Turm und weiter in die weiten Flächen des Museumsgebäudes, das nun genügend Platz auch für Sonderausstellungen bietet.
Blick vom Rhein auf Bahnhof und Neubau mit „Schlüssel des Stundenschlägers“
An diesem viel zu warmen, viel zu sonnigen Novembertag herrscht hier oben ein klares, beinahe überirdisches Licht – und dann dieser ins unendliche geweitete Blick über den Fluss und die Hügel des Rheingaus und eine überraschende Stille, trotz des Nachmittagsprogramms und der vielen Kinder, die der atmosphärischen, musikalisch untermalten Erzählung des „Dschungelbuchs“ von Rudyard Kipling zuhören. Die Veranstaltung findet im Rahmen der Sonderausstellung „Menschenskinder. Kinderleben zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ im architektonisch wundervoll integrierten Nachbarbau des Kulturbahnhofs Rolandseck statt. Sie zeigt Kinderbildnisse – Skulpturen und Gemälde – unterschiedlichster Epochen aus der Sammlung des Kinderarztes Gustav Rau, der lange Jahre in der Demokratischen Republik Kongo tätig war. Die Kunstwerke werden neben Dokumentarfotografien aus dem internationalen Wettbewerb „UNICEF-Foto des Jahres“ gestellt. Sie bilden heutige kindliche Lebenswelten ab, die alles andere als behütet oder friedlich sind. Kindheit war schon immer kein Kinderspiel. Und wenn man die Fotografien aus der Gegenwart betrachtet, wird deutlich, dass das heute in großen Teilen der Welt nicht anders aussieht. Wir sehen Kinder aus Syrien und aus Gaza, Indien oder Moldawien, aber auch aus Deutschland und den USA – Kinder, die extremen Schönheitsidealen nacheifern statt zu spielen, oder die in voll ausgestatteten Spielzimmern mit rosa Plastikgewehren posieren.
Das ist die Wahrheit, nicht nur an diesem Tag: Wir leben in keiner Blase. Alles hat mit allem zu tun, ob uns das passt oder nicht. Aber es gibt noch eine Wahrheit, auch an diesem seltsamen, unwirklichen, herausgehobenen und doch in der Realität verhafteten Ort, an diesem sprachlosen Tag: Die Kunst kann man bekämpfen, Kunstwerke kann man zerstören. Das haben die Nazis damals getan, als sie Bücher verbrannten und Künstler wie Hans Arp verfemten. Das wird heute weltweit wieder in erschreckendem Ausmaß bewiesen, wenn der IS jahrtausendealtes Kulturgut sprengt, aber auch, wenn fundamentalistische Christen eine Aufführung der „Mass for Peace“ von Karl Jenkins stören. Aber die Kunst kann man nicht töten. Sie wird nicht aussterben. Sie ist das, was die Menschen oft über Wasser hält, wenn ihnen der Boden unter den Füßen fehlt. Sie kann ein Rettungsanker sein, ein Hafen oder vielleicht auch nur eine schwimmende Insel, an der man sich noch treibend festklammert. „Wir sehnten uns nach der klaren Flut, nach der heiligen Gelassenheit, welche die Unterschiede, die Dinge, das Leben, die Zustände, die Ereignisse umschlingt, durchdringt, aufhebt. Wir sehnten uns im Innersten nach dem Absoluten, nach der ‚Ungeschiedenheit von Natur und Geist, Objekt und Subjekt‘, nach dem Ziele, das die Gegensätze aufhebt“, so hat es Hans Arp einmal geschrieben.