Mehrmals in der Woche nehme ich die Metro 6, um mich zu meinen kleinen Job im 16. Arrondissement zu begeben. Eigentlich ist Metrofahren (im Gegensatz zum Bus) für mich kein besonderes Vergnügen: Eher bin ich nach einer Fahrt erleichtert, Menschenmengen, laute Fahrtgeräusche, merkwürdige Gerüche und zuweilen auch zwielichte Gestalten im muffigen, zugigen Untergrund zurückzulassen. Die Linie 6 allerdings hat die Besonderheit, streckenweise überirdisch fahren und das macht vieles wett. Ratternd und oft sonnendurchflutet überquert sie die Seine und bietet einen spektakulären Blick auf den Eiffelturm. Vom linken Seine-Ufer (Rive gauche) geht es hinüber zur Rive droite. Das 16. Arrondissement ist wenig touristisch, sehr wohlhabend und fein. Auf den Caféterrassen sitzen ältere Damen mit Schoßhund, während sich ein Strom von Schülern, Kinderwagen und Babysittern über die Gehwege zieht. Selber auch den Kinderwagen vor mich herschiebend versuche ich mir einen Weg zu bahnen, ohne dauernd in ein Paar fein polierte Lederhacken vor mir zu stoßen. Ich hole "meine" zwei kleinen Jungs von der Schule (die "école" beginnt in Frankreich ab 3 Jahren) ab und lotse sie, meist nicht ohne einen Abstecher in Bäckerei oder Bonbonladen gemacht zu haben, nach Hause.
Auch das vergangene Wochenende habe ich weitestgehend mit den Kleinen verbracht, die Eltern waren auf Reisen. Von dort oben in der 7.Etage hat man herrliche Aussichten auf den Boulevard und die gegenüberliegenden Häuserfassaden. Und endlich hatte ich meine Kamera mal mit dabei.
Warum bin ich eigentlich so fasziniert von Fenstern, den Lichtern und Bewegungen oder der Stille dahinter? Ein Fenster ist wie ein geschlossener Buchdeckel, auf dem ein verheißungsvoller Titel steht. Es ist das Leben anderer. Alltagsgesten, die im Blick eines Dritten etwas von Prosa haben. Ich mache mir eine Fiktion daraus, die mich inspiriert. Fenster sind Ausschnitte. Das Banale weggeschnitten, das Poetische auf die Fensterscheibe geschrieben.
Fiktives Leben brauche ich zum Tagträumen, buchstäblich zum Ausmalen. Leben, das ich noch leben werde. Leben, das ich nicht mehr leben werde. Leben, das ich ausgeschlossen habe durch meinen jetztigen Weg. Und Leben, das ich mir irgendwann einmal vorgestellt und erträumt habe und nun wirklich lebe.
Aber zurück zu Ort und Stelle. Die Stunden mit den Kleinen vergehen schnell. Ich übe mich gerne in dieser Rolle: mich kümmern, zuhören, mahnen, erklären, ermutigen, verantworten, trösten.
Diese Monate Alltag zwischen Masterarbeit und Nebenjobs, die Zeit, die ich mit F. habe, und das alles in dieser unglaublichen Stadt, möchte ich genießen.
Wer weiß, wie es danach wird, mit jenem ominösen Ernst des Lebens ... ?
Abends nimmt das Licht nur in Zeitlupe ab. Die kurzen Nächte sind da.
Die Kleinen werden nicht müde und ich kann es ihnen nicht verdenken. Also nochmal die Verkleide-Kiste auf oder ein Ausnahmsweise-Eis aus der Tiefkühltruhe.
Und ganz allmählich wird der Himmel satt von Abendrot und man lässt den Tag begnügt gehen ...