Von Genetik gelesen, aber nichts verstanden

Es ist nun etwas mehr als ein Jahr her, dass Thilo Sarrazin in der Welt am Sonntag und der Berliner Morgenpost erklärte, dass Juden wie Basken spezielle Gene aufwiesen, die sie von anderen unterschieden. Später distanzierte er sich von dieser Aussage, nannte sie überspitzt formuliert, was seiner Gefolgschaft fortwährend als Beweis galt, dass Sarrazin es wirklich wissenschaftlich und seriös meine. Schließlich gab er sich reuig, was seinem Ruf als Selbstdarsteller und Enfant terrible mächtig entgegenwirke.

Jene Aussage machte selbst jene Naserümpfen, die bis dahin noch Sarrazins Thesen befürworteten. Das taten sie nachher sicherlich weiterhin, nur diesen einen Ausspruch wollte sie nicht unwidersprochen dulden. Dergleichen sage man nicht, las man da. Moralische Abkanzelungen, Hinwirken auf politische Korrektheit, inhaltliche Analysen dieser Aussage aber, gab es so gut wie keine. Fast so, als habe er im Grunde etwas gesagt, was nicht falsch ist, was man aber heute, da man gut erzogen ist, nicht mehr sagt. Es lohnt sich aber durchaus ein Blick auf das Juden- und Baskenphänomen, wie es auch die Wissenschaft behandelt hat und wie es der Anthropologe Marvin Harris populärwissenschaftlich anriss:
"Die Basken und Juden sind zwei der ältesten überlebenden ethnischen Gruppen. Die Basken, deren Heimat beiderseits der Pyrenäen in Spanien und in Frankreich liegt, sprechen eine Sprache, die mit keiner anderen europäischen Sprache verwandt ist. Die Ursprünge dieser Volksgruppe reichen weit hinter die römische Zeit zurück, bis in die Anfänge der Bronzezeit in Europa. Was die Juden betrifft, so beanspruchen sie auf Grund des Zeugnisses der Schrift, daß Abraham aus Ur im Land der Chaldäer kam, ein Alter von etwa 4000 Jahren. Aber weder die Basken noch die Juden können Anspruch auf eine durch strikte Endogamie gewährleistete Reinheit der Abstammung erheben. In beiden Fällen läßt sich die vielbeschworene gemeinsame Herkunft nur um den Preis aufrechterhalten, daß eine riesige Zahl fremder Abstammungslinien außer Betracht bleibt. Mit Hilfe von Blutgruppen und anderen immunologischen Kennzeichen haben Forscher mehrfach nachgewiesen, daß die Juden in irgendeiner bestimmten Region ihren nichtjüdischen Nachbarn genetisch näherstehen als den Juden in anderen Regionen."
- Marvin Harris, "Menschen. Wie wir wurden, was wir sind.", Seite 101 -
Einige Seiten später handelt Harris das Märchen des Intelligenzunterschiedes zwischen den Ethnien ab, das noch aus den Tagen Thomas Huxleys stammt, der immerhin Darwins Handlanger war. Um es kurz zu machen, Harris erklärt, dass Schwarze in den USA bei Intelligenztest schlechter abschneiden. Dies sei keine Lüge der Befürworter rassischer Thesen, jedoch lasse sich dieser Intelligenzunterschied nicht rassisch erklären. Die schlechteren Testergebnisse sind "Ausdruck einer geringeren sozialen Motivierung der Schwarzen [...], hohe Intelligenzquotienten zu erzielen, wofür u.a. eine lange Geschichte der schlechteren schulischen Ausbildung, das Aufwachsen in kaputten Familien und die fehlende Begegnung mit intellektuell erfolgreichen Rollenvorbildern verantwortlich zu machen sind". Das ist im Hinblick auf Sarrazin nicht ganz unspannend, schließlich war er es, der lauthals über Intelligenzunterschiede zwischen Juden, Slawen und Araber schwadronierte, wobei Deutschland natürlich die weniger Intelligenten abbekomme, was wiederum zur Abschaffung Deutschlands führte (und zum Verlegen eines Buches, das diesen Titel trägt).
Nun hat sich Sarrazin damals distanziert von seiner Aussage. Zusätzlich meinte er sinngemäß, dass diese Äußerung zu Juden und Basken etwas überspitzt war. Das moralische Stahlgewitter in das er da geschubst wurde, mag ihn dazu veranlasst haben. Aber auch wenn er es aufrichtig meinte, selbst wenn er zur Einsicht gelangte, er hätte ein klein wenig übertrieben, so fragt man sich unwillkürlich doch - oder sollte man sich mit kritischem Verstand jedenfalls fragen -, woher nahm dieser Mann sein vermeintliches Wissen? Wer mit Huxleys uralten Thesen aufwartet, die mehr als ein Jahrhundert auf dem Buckel haben, wenn er von jüdischen und baskischen Genen spricht, hernach ein wenig zurückrudert, obwohl Studien eindeutig klärten, dass es genetische Reinheiten auch bei diesen beiden Gruppen nicht gibt, dann ist er schon mit diesen Aussagen derart disqualifiziert, dass er als ernstzunehmender Gesprächspartner nicht taugt. Er hat auch nicht etwas überspitzt, nicht etwas übertrieben, denn Basken- und Judengene und schon gar ihre Reinheit gibt es nicht mal im Ansatz.
Eines sah man an Sarrazins Aussage damals recht gut: er hat für sein Buch recherchiert. Wenn auch schlecht. Irgendwo in den Evolutions- und Anthropologiebüchern, die er wälzte, hat er was von Basken und Juden aufgeschnappt, aber nicht richtig verarbeitet. Was natürlich daran liegen könnte, dass er wenig Ahnung von Vererbungslehre hat, dass er sie liest wie einen abenteuerlichen Roman von Goliath gegen David. Täuschen kann man sich durchaus mal. Zahlen anders auswerten auch. Darüber kann man dann streiten. Aber das kleine Einmaleins der Anthropologie nicht zu beherrschen, obwohl man ein Buch schreibt, bei dem Grundwissen hierzu unbedingt notwendig ist, das ist fahrlässig, das ist gefährlich.
Dass wissenschaftliche Erkenntnisse eigentlich so gut wie gegenstandslos sind, erkennt man auch daran, dass Sarrazins damalige Äußerung nur moralisch, nicht aber inhaltlich gekontert wurde. Der Hokuspokus um die menschliche Vererbungsmechanismen, der zuweilen den Diskurs bestimmt, scheint mehrheitlich gar nicht als Hokuspokus wahrgenommen zu werden. Daher nur die moralische Schelte. Denn ganz falsch lag Sarrazin nicht, heißt es dann, nur sowas sage man halt nicht, das sei unanständig und klinge so verdächtig nach Nazi. Dass Vererbung so nicht funktioniert, wie er es meint, glaubt man nicht.

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