Von Einhörnern und der spanischen Protestbewegung 15-M

15-M ist keine gewöhnliche Protestbewegung – gerade so wie das Einhorn kein gewöhnliches Pferd ist. Vielmehr findet in Spanien ein beispielloser Prozess der sozialen Politisierung statt. So beschreibt es Amador Fernández-Savater, 15-M-Aktivist der ersten Stunde. – Eine Einschätzung aus dem Inneren der Protestbewegung anlässlich ihres zweiten Jahrestags. Übersetzung: Walter B.

mark tholander (9)

«Ein chinesischer Prosaist hat vermerkt, dass ein Einhorn, gerade weil es so sonderlich ist, unbeachtet bleiben muss. Die Augen sehen nur, was sie zu sehen gewohnt sind.» (Gorge Luis Borges)

***

Mai ist Prüfungszeit. Auch die Protestbewegung 15-M ist davor nicht gefeit. Der zweite Jahrestag ist für die Medien eine günstige Gelegenheit, ihr Urteil zu fällen. Ist die Bewegung noch am Leben? Was bleibt? Wächst sie oder wird sie kleiner? Und was hat sie erreicht? Es sind Augen auf sie gerichtet, die nur sehen, was sie zu sehen gewohnt sind: das Ereignis und nicht den Prozess, die Identität und nicht die Verwandlung, das Spektakuläre und nicht das Alltägliche, den Makrokosmos und nicht den Mikrokosmos, das Quantitative und nicht das Qualitative, die Ergebnisse und nicht die Wirkungen – ein klinischer Blick von aussen, der Blick Gottes auf seine Kinder. Ein Problem ist nur, dass wir diesen Blick verinnerlichen und uns seinen Normen angleichen. Deshalb protestierte letzthin eine Freundin lauthals: «Zum Teufel mit diesem Jahrestag! Wir kämpfen jeden Tag. Wir könnten diesen ebensogut am 3. Februar oder am 11. Juni begehen. Wenn die Medien uns für tot halten – umso besser! So können wir ruhiger arbeiten.»

Das Einhorn ist nicht genau ein Pferd. Ebenso sind die Bewegung 15-M[1], die Mareas[2] oder die Bewegung PAH[3] nicht soziale Bewegungen im herkömmlichen Sinn, sondern Namen und Masken, die sich ein wahrhaft aussergewöhnlicher Prozess der sozialen Politisierung selbst aufsetzt. Es ist ein und derselbe Prozess, und doch ist er immer wieder anders, in ständiger Verwandlung begriffen. Die Herausforderung besteht nicht so sehr darin, den unzähligen Lügen oder Stereotypen zu begegnen, die täglich in den Medien herumgereicht werden, sondern zu lernen, uns selbst anders zu sehen, anders zu erzählen. Die Herausforderung besteht darin, das Aussergewöhnliche, was wir vollbringen und leben, wertschätzen, benennen und vermitteln zu können.

Die Erschaffung von neuem Sinn

Heute äussert sich das soziale Unbehagen in einem erhöhten politischen Bewusstsein und der persönlichen Teilnahme an Initiativen, Protesten und deren Organisation. Und das Unbehagen wird vermehrt zum Ausdruck gebracht und geteilt – nicht nur unter Freunden und in Bars, sondern mit Unbekannten und auf der Strasse. Das soziale Unbehagen wird zur Aktion. Dies ist nicht etwa ein mechanischer Vorgang, der automatisch und mit einer gewissen Notwendigkeit abläuft. Das alles müsste nicht so sein. Und tatsächlich ist es ja auch nicht das, was in anderen europäischen Ländern, die von der Krise, vom Betrug betroffen sind, geschieht. Nein, normal wäre die allgemeine Verbreitung von Angst, von Resignation, von Schuldgefühlen sowie das Fortschreiten der Individualisierung. Eine solche Wirkung hin zur Passivität erzielt zum Beispiel die weit gestreute offizielle Lesart der Krise: «Wir haben über unseren Verhältnissen gelebt.» Wir sind also Sünder. Wir haben deshalb kein Recht zu protestieren. Und die gerechte Strafe ist unser Sühneopfer. Die Kürzungen von Merkel und Rajoy – Figuren des strafenden Gottes – sind deshalb willkommen. Doch diese Erzählung konnte sich hier nicht wirklich durchsetzen. Das Private wird gemeinschaftlich. Es wird geteilt. Die Depression wird  politisch. Der Sinn unserer Existenz – Eigentum, Erfolg, Konsum – geht unter. Doch wir sind imstande, zusammen mit anderen neuen Sinn zu schaffen. Von dem Ort aus, wo wir stehen, bewegen wir uns und kümmern uns um unsere gemeinsame Lage. Wir verantworten, was wir nicht verschuldet haben. (Tatsächlich und bestimmt gerade deshalb ist es alles andere als gewiss, ob die Suizidrate in der Krise wirklich nach oben zeigt.[4])

Perroflautas[5], Beamte, Feuerwehrleute, Polizisten, Angestellte im Gesundheitswesen, Richter, Lehrer: Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft sind das Subjekt von 15-M, der Mareas und der PAH. Es sind die 99%. Und die Kämpfe sind nicht ständisch, korporativ, sondern einschliessend, inklusiv. Es sind Kämpfe für die Anliegen aller. Einerseits entzünden sie sich an konkreten gemeinsamen Anliegen von Menschen ganz unterschiedlicher ideologischer Herkunft und neutralisieren so die Szenerie der Konfrontation zwischen «den beiden Spanien»[6], die den Mächtigen so zweckdienstlich ist. Anderseits lösen diese Kämpfe die traditionelle Trennung zwischen Akteuren der Politik und deren Zuschauern auf: Die ideele Trutzgemeinschaft der Marea verde[7] sind Eltern, Lehrer und Schüler. Im Fall der Marea blanca[8] sind es die Ärzte, die Angestellten und Nutzer des öffentlichen Gesundheitswesens. Im Fall der Plattform der Hypothekengeschädigten (PAH) die Direktbetroffenen, Aktivisten unterschiedlicher Herkunft und irgendwelche Leute. Und schliesslich verbinden die Kämpfe Momente des öffentlichen Protestes, wie etwa am vergangenen 23. Februar, ein Repertoir an Aktionen – Asambleas[9], Strassenblockaden, Umzingelungen – und dieselbe Erzählung darüber, was vor sich geht, etwa: «Wir sind keine Waren in den Händen von Politikern und Bankern.»

Ein offenes, einschliessendes Wir

Dies ist nicht ein mechanischer Vorgang, ein Automatismus, eine Notwendigkeit. Das alles müsste nicht so sein. Normal wäre die Selbstbezüglichkeit, die Fragmentierung nach Ständen oder ideologisch. Normal wären Kämpfe für das Eigene, Kämpfe, die nicht in den anderen Widerhall finden und keine gemeinsamen Fragen nach der Gesellschaft aufwerfen, in der wir leben, Kämpfe, die keine ansteckenden Möglichkeiten der kollektiven Aktion erfinden. Normal wären Kämpfe, die nicht über die sektorielle Definition der Probleme hinausgehen. Das wäre normal. Ein griechischer Aktivist, der letzthin Madrid besuchte, erzählte, dass der Syntagma-Platz immer nach Identitäten aufgeteilt war: hier Anarchisten, dort Kommunisten usw. Und er staunte, als er hörte, dass wir auf den Plätzen von 15-M ein offenes und einschliessendes Wir entstehen liessen, das über die Unterschiede hinaus ging, ohne sie aufzuheben.

Und ist es nicht ebendiese Erzählung der 99% gegen das 1%, diese erneute Symbolisierung des Gemeinsamen von unten, die in diesen Zeiten die Möglichkeit einer Goldenen Morgenröte nach spanischer Art heraufbeschworen hat – mit ihren Sündenböcken und ihrer Gewalt in den Strassen? Der griechische Aktivist erklärte, die Neonazigruppe werde von der Polizei nach Kräften unterstützt. Und er staunte nicht schlecht, als wir ihm die ungewöhnlichen Verhaltensweisen aufzählten, die wir unter den Ordnungshütern immer öfter beobachten: eigene Kundgebungen, Kritik gegenüber den Politikern und dem eigenen Kommando, Aktionen des Ungehorsams, die Weigerung, an Wohnungsräumungen teilzunehmen. Den Feind sucht man oben (1%), nicht nebenan.

Normal wäre auch, wie uns die Medien immer wieder weismachen wollen, dass es zu «einer Explosion» kommt. Man weiss nicht genau, was das wäre, aber man stellt es sich so vor: Brandschatzung und Plünderungen, ein unkontrollierter Anstieg der Kriminalität, der Krieg jeder gegen jeden. – Und als Konsequenz: die erneute Legitimierung der staatlichen Autorität als notwendiger Schiedsrichter des Zusammenlebens. Doch ebendas geschieht nicht. Einerseits wurde rund um die materiellen Probleme der Prekarität und Armut ein formelles und informelles Gewebe der Solidarität aktiviert: von Netzen solidarischen Wirtschaftens bis zu familiären und freundschaftlichen Netzen. Und anderseits schafft die soziale Beklemmung in einem kreativen und kollektiven Sinn – Würde, eine Würde, die sogar inmitten der Hoffnungslosigkeit Freude bereitet. Ich denke da zum Beispiel an die PAH. Es ist genau das, was von oben «Antipolitik» genannt wird.

mark tholander

Die Schock-Strategie verfängt nicht

In ihrem Buch «Die Schock-Strategie»[10] erklärt Naomi Klein, wie der «Katastrophen-Kapitalismus» sich Panikstimmungen und soziale Krisen zunutze macht, um in der neoliberalen Transformation der Gesellschaften einen Sprung nach vorne zu erlangen. Im Chile von Pinochet, im postsowjetischen Polen und im von Katrina verwüsteten New Orleans schlug eine Mischung von repressiven und wirtschaftlichen Schocks die Bevölkerungen k.o., indem sie die nachbarschaftliche Solidarität zerstörte, so dass Lähmung um sich griff sowie Angst vor dem Nächsten, von dem man sich distanzierte – was wiederum die Abhängigkeit von einem beschützenden Vater beförderte. Das oberste Ziel der Schock-Strategien, so erklärt Klein, sei es, die Verteidigung eines eigenwilligen Sinns der Gesellschaft zu brechen, die autonomen Erzählungen und unabhängigen Formen auzulöschen, die den Leuten gemeinsam sind und die Welt deutbar machen. Die daraus hervorgehende Orientierungslosigkeit werde ausgenutzt, um als dominierende Definition der Wirklichkeit ein «Rette sich, wer kann» zu installieren.

Die Schock-Strategie verfängt hier nicht, wie sie sollte. Das können wir nicht zuletzt an den Irritationen beobachten, mit denen die neoliberalen Ökonomen die spanische Gesellschaft und die Krise analysieren: Ein Problem für sie ist unser zähes Beharren darauf, uns anders zu denken denn als Atome ohne kollektive Rechte und ohne jegliche Bindung an Menschen und Orte, allein angetrieben durch die Idee des Erfolgs und der individuellen Selbstverwirklichung. Die Ökonomen sprechen dann von «normativer Starrheit», «mangelnder (geografischer) Mobilität», «begrenztem Unternehmergeist», «familiärer Matratze» usw.

Eine neue Landkarte

Es gibt keinen Schock, weil Politik stattfindet. Nach dem französischen Philosophen Jacques Rancière bewirkt Politik drei Bewegungen. Erstens unterbricht sie das Notwendige, etwa die viel gehörten Dogmen: «Es gibt nur, was es gibt», «Es herrscht Krise», «Es gibt kein Geld», «Von nichts kommt nichts». Zweitens schafft sie eine Landkarte des Möglichen, damit das Mögliche gesehen, gefühlt, gedacht und auch getan werden kann. Zum Beispiel indem man statt eine notwendige Zwangsräumung überhaupt nichts sieht – oder einzig «die routinemässige Abwicklung des Zahlungsausfalls einer Hypothek». Man muss empfinden können, dass die Zwangsräumungen nicht tolerierbar sind, dass sie weder richtig noch notwendig sind, sondern nur verhängnisvoll – und dass sie uns etwas angehen. Gemeinsam organisieren wir uns, um sie aufzuhalten. Und drittens erfindet die Politik neue Subjekte. Sie definiert neu, wer sehen, fühlen, denken und tun kann. Die Politik ist weder ein vorhersehbarer noch ein ideologisch oder soziologisch vorgeformter Ausdruck von Subjekten, sondern die Erschaffung von Räumen der Subjektivierung, die vorher nicht bestanden und wo die vermeintlich Unfähigen und Ignoranten das Wort ergreifen und handeln – und so vom Opfer zum Handelnden werden.

Die Politik zeichnet eine neue Landkarte der Verbindungen. Das Mächtigste in Spanien ist nicht, dass es viele Gruppen gibt, die etwas tun, sondern dass eine Karte, ein Klima der Politisierung entstanden ist, welches die sozialen Gräben überwindet und gleichzeitig einen Raum höchster Leitfähigkeit bildet, wo Worte, Aktionen und Empfindungen zirkulieren: ein Ökosystem, das grösser ist als die Summe seiner Teile, ein Kräfte- und Schwingungsfeld, eine sinnvolle gemeinsame Erzählung darüber, was uns geschieht. Die Luft ist elektrisch geladen.

Wir sehen nur, was wir zu sehen gewohnt sind: das Normale und nicht das Unmögliche. Doch seit dem 15. Mai 2011 leben wir im Unmöglichen, in der Missachtung aller Wahrscheinlichkeiten, aller Verhängnisse, aller Schicksale. Wir brauchen deshalb ein «Denken des Unmöglichen», ein Denken, das unsere Augen von Gewohnheiten befreit, damit wir sehen und einschätzen können, was vor sich geht und nicht geschehen müsste und was nicht geschieht und – «aus logischen Gründen» – geschehen sollte. Ein «ent-naturalisierendes» Denken ist nötig, das die Erschaffung sehen kann und nicht nur die Wiederholung, die Aktion und nicht nur die sozialen oder kausalen Determinismen. Nur so können wir die Macht dessen empfinden, was wir tun, in ihr verweilen und sie in unvorhersehbare Richtungen weiterführen.

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Anmerkungen des Übersetzers

[1] Die spanische Protestbewegung begann am 15. Mai 2011. Daher ihr Name.

[2] Zu Deutsch Flut. Bezeichnung der Bürgerproteste (Marea ciudadana = «Bürgerflut») zur Verteidigung des öffentlichen Sektors vor Kürzungen und Privatisierung. Je nach betroffenem Sektor bekommt die «Flut» eine andere Farbe: Marea blanca: öffentliches Gesundheitswesen; Marea verde: Bildungswesen; Marea naranja: Fürsorge und Sozialdienste.

[3] Organisation der Hypothekengeschädigten: Ein Bürgernetzwerk zum Schutz gegen Zwangsräumungen, weil die Hypotheken nicht mehr bedient werden können. Steht eine Zwangsräumung bevor, blockiert eine grössere Anzahl von Mitgliedern des Netzwerks den Zugang für die Vollzugsbeamten.

[4] Der Autor verweist hier auf eine Untersuchung, die verneint, dass im Zuge der Krise die Suizidrate gestiegen sei.

[5] In etwa: alte Hippies, ironisierende Bezeichnung für die vielen Senioren, die sich der Protestbewegung angeschlossen haben.

[6] Die zwei Spanien: «… auf der einen Seite ein städtisch-fortschrittsorientiertes, antiklerikal-liberales, republikanisch-demokratisches und auf der anderen ein ländlich-konservatives, katholisch-traditionalistisches und autoritär-monarchistisches Lager». (Wikipedia: Zwei Spanien)

[7] Siehe Anmerkung 2.

[8] Ebenda.

[9] Zu Deutsch: Versammlungen. Gemeint sind die Protestversammlungen, die Ausdruck der Wiedereroberung des öffentlichen Raumes sind und gleichzeitig das demokratische Gefäss für gemeinsame Entscheide bilden.

[10] Naomi Klein: «Die Schock-Strategie», Fischer Taschenbuch, ISBN: 978-3-596-17407-2.

Das Original des Textes von Amador Fernández-Savater ist auf dem Blog Interferencias erschienen.

Bildnachweis: Studien «Unicorn» von Mark Tholander, mit freundlicher Genehmigung des dänischen Künstlers


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