Von einem Vater, dem der Sohn das Sehen lehrte.

Von Vincent Deeg
OFT IST ES NICHT DER BISS DER KREATUR, DER DAS OPFER TÖTET. SONDERN DESSEN SCHLEICHENDES GIFT, DAS ES VON NUN AN AUF ALL SEINEN WEGEN BEGLEITET. 
(Vincent Deeg)
Die giftige Hölle hatte sein Sohn Peter diesen Ort immer wieder genannt. Während er die unmenschlichen Bedingungen beschrieb, die dort herrschten und während er nicht nur von den giftigen Dämpfen in den Hallen des Leichtmetall Betriebes erzählte, denen die Gefangenen bei der Verrichtung ihrer Sklavenarbeit täglich schutzlos ausgesetzt waren, sondern auch von dem dichten und tief schwarzen Rauch, der, immer dann, wenn der Wind ungünstig stand, was häufig der Fall war die Baracken des kleinen Lagers gänzlich einhüllte und ein Atmen beinahe unmöglich machte.
Damals, als Peter, der zuvor mit ein paar Freunden versucht hatte, über die grüne Grenze in den Westen zu fliehen und den man nach seiner Verhaftung zu einer Gefängnisstrafe von insgesamt vierzehn Monaten verurteilte wieder aus der Haft entlassen wurde, als er das erste Mal seinen Vater besuchte, konnte und wollte der nicht glauben, was sein Sohn da erzählte.
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Es war tatsächlich sehr schwer zu glauben, was sein Sohn da von sich gab. Zumindest für einen Parteigenossen, dessen Ansehen zwar durch Peters Fluchtversuch und Verhaftung etwas gelitten hatte und der durch die darauf folgenden Verhöre durch die Staatssicherheit einiges über sich ergehen lassen musste, der aber trotz allem noch immer die DDR und den damit verbundenen Sozialismus und Kommunismus für den einzigen humanen und richtigen Weg hielt.
Eine vom und für das Volk gewählte Regierungsform, die, daran glaubte er fest, unmöglich dazu im Stande war, all diese furchtbaren und verabscheuungswürdigen Dinge zu tun, von denen ihm Peter in seinen schrecklichen Geschichten berichtete.
Die auf keinen Fall zulassen würde, dass man einem jungen Menschen, nur weil dieser einen, seiner Meinung nach dummen Fehler begangen hatte, als politischen Gegner das Menschsein aberkennt.
Nein. Er konnte und wollte diese Geschichten, die in seinen Augen nur ein Ergebnis einer zu regen Fantasie und das dumme Gerede eines, von der Westpropaganda verblendeten jungen Mannes waren nicht glauben.
Nicht die Geschichten, in denen es um die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in diesem Gefängnis ging und auch nicht diese, in denen Peter nicht nur von der sowohl täglichen, als auch nächtlichen und von der Gefängnisleitung geforderten Drangsalierung erzählte, sondern in denen er auch die brutalen Übergriffe der zur Aufsicht angehaltenen kriminellen Gefangenen beschrieb, denen die politischen Gefangenen zu jeder Tages und Nachtzeit absolut schutzlos ausgeliefert waren.
Geschichten, die zwar allesamt glaubwürdig klangen. Die aber am Ende nur dafür sorgten, dass sich Peters Vater, der eigentliche Verblendete von seinem gegen die DDR hetzenden Sohn abwendete und den Kontakt zu ihm mit den Worten „Ich habe keinen Sohn mehr“ abbrach.
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Zwei lange Jahre war das nun schon her. Und es wären sicher noch zwei weitere Jahre vergangen, wenn Klaus nicht eines Tages diesen Brief bekommen hätte. Diesen Brief, in dem ihn ein ihm unbekannter Professor Hebermann der Universitätsklinik Rostock bat, ihn zwecks einer sehr wichtigen und seinen Sohn betreffenden Angelegenheit in seiner Klinik aufzusuchen. Dort, wo er in einem langen und niederschmetternden Gespräch von Peters Lungenkrebserkrankung erfuhr. Und wo er von nun an beinahe täglich stundenlang auf dem Rand des Krankenhausbettes seines immer schwächer werdenden Sohnes saß, wo er versuchte, dessen von Tag zu Tag dünner und leiser werdenden Worte zu verstehen, wo er ihm, während er Peter in das müde lächelnde Gesicht sah, dessen Augen immer leerer und trüber wurden und dessen Haut immer mehr aus dünnem Pergamentpapier zu bestehen schien mit zitternder Hand über die blasse und vom Schweiß nasse Stirn strich.
Bis zu diesem einen Tag. An dem er und das ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können mit ansehen musste, wie Peter, dessen Kraft schon lange versiegt war den Kampf gegen den Krebs verlor und in seinen Händen verstarb.
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Peter starb am 15. Dezember 1986 in der Krebsabteilung der Universitätsklinik Rostock an den Folgen seiner Lungenkrebserkrankung. Eine tödliche Krankheit, dessen Entstehen und Entwicklung auf Grund der Tatsache, dass Peter weder ein Raucher, noch in sonst einer Form mit gefährlichen und die Lunge schädigenden Substanzen in unmittelbaren Kontakt gekommen war, mit hoher Wahrscheinlichkeit den unmenschlichen Bedingungen zu zurechnen ist, denen er, genau, wie seine anderen Mitgefangenen in diesem von ihm beschriebenen Gefängnis so lange ausgesetzt war.
Ein Einzelfall? Leider nein. Denn dies ist nur eine Geschichte von vielen, die von dieser unmenschlichen Behandlung gegenüber den politischen Gegnern des SED Regimes und von deren zum Teil sehr schwerwiegenden Folgen berichtet. Folgen, die nicht etwa mit dem Untergang der DDR verschwanden, sondern die, wie unzählige Berichte bestätigen, sowohl gesundheitlich, als auch wirtschaftlich bis in die heutige Zeit hinein reichen.
Diese Geschichte beruht auf eine wahre Begebenheit. Sie wurde mir von Klaus persönlich erzählt. Ein Vater, der nach dem Tote des einzigen Sohnes sein Parteibuch abgab und der, nachdem er einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik Deutschland gestellt hatte zwei quälende und vor allem erkenntnisreiche Jahre später in diese entlassen wurde.
Alle hier beschriebenen Namen wurden geändert.