Von einem der auszog, im Keller die Weihnachtsdekoration zu holen

Von Christianhanne

Es ist Ende November, die Adventszeit und Weihnachten nähern sich unaufhaltsam mit großen Schritten und unsere Wohnung ist noch nicht geschmückt. Das hat einen guten Grund: Die Kiste mit der Weihnachtsdekoration befindet sich im Keller. Und da wir in einem Altbau wohnen, ist der Weg dorthin beschwerlich, der Keller ist dunkel und muffig und es hält sich außerordentlich viel Ungeziefer dort auf. Alles sehr gute Gründe, den Keller so selten wie möglich aufzusuchen.

Ich gehe eigentlich nur zwei Mal im Jahr in den Keller: Im Spätherbst lagere ich mein Fahrrad ein und hole die Weihnachtsdekoration hoch, im Frühjahr steige ich dann wieder hinab und tausche den Christschmuck gegen das Fahrrad aus.

Nun steht der Spätherbst-Kellergang an. Denn die Freundin sagte heute Morgen: „Die Kiste mit dem Weihnachtsschmuck müsste mal aus dem Keller geholt werden.“

Adventliche Dekoration. Nicht mehr im Keller.

Leserinnen und Leser, die in langjährigen Beziehungen leben, werden diese Art des Formulierens kennen: Der wunderbare Axel Hacke hat es einmal als das Partnerschafts-Passiv beschrieben. Es kommt zum Einsatz, wenn Dinge erledigt werden sollen, die man auf gar keinen Fall selbst machen möchte. Zum Schutze des häuslichen Friedens ist es allerdings nicht opportun, vom Partner oder der Partnerin zu verlangen, diese Dinge zu tun.

Die Aufforderung, den Müll herauszutragen, wird beispielsweise häufig durch das Partnerschafts-Passiv kommuniziert: „Der Müll müsste mal runtergebracht werden.“ Blumengießen, Fensterputzen und Altglasentsorgung zählen ebenfalls zu beliebten Themen des Partnerschafts-Passivs.

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Die Freundin verwendet das Partnerschafts-Passiv, wenn sie Sachen aus dem Keller benötigt. Im Keller gibt es nämlich viele Spinnen. Und große Spinnen. Und viele große Spinnen. Und die Freundin ekelt sich ganz fürchterlich vor Spinnen. Deswegen möchte sie nicht selbst den Keller betreten.

Nun bin ich persönlich auch kein großer Freund von Spinnen. Die gesellschaftlich normierten Rollenerwartungen an das männliche Geschlecht verbieten es mir aber, dies allzu laut kund zu tun. Daher obliegt es  für gewöhnlich mir, in den Keller zu gehen. Manchmal glaube ich, dass dies meine einzige Daseinsberechtigung in der Familie ist. Ohne die Aufgabe des In-den-Keller-Gehens wäre ich möglicherweise vollkommen entbehrlich. Insbesondere wenn die Kinder bald groß genug sind und sich selbst Pausenbrote schmieren können.

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Nachdem mich die Freundin in den letzten Tagen mehrfach partnerschafts-passivisch und beziehungskonform darum gebeten hat, den Weihnachtsschmuck hochzuholen, ist es zur Wahrung der familiären Harmonie unvermeidlich: Ich muss in den Keller gehen.

Der Sohn möchte mich begleiten. Er ist der einzige in der Familie, der gerne in den Keller geht. Er hofft, dort einen Schatz zu entdecken. Oder wenigstens ein Skelett. Seit dem ich im letzten Winter eine tote Ratte im Keller gefunden habe, ist mein Bedarf an Leichnamen im Keller gedeckt.

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Um unseren Kellerverschlag zu erreichen, haben der Sohn und ich zunächst den Keller-Dreikampf zu absolvieren. Zunächst müssen wir – beziehungsweise ich – das Fahrrad die steile und rutschige Treppe im Hinterhof nach unten tragen und dabei vermeiden, dass wir ausrutschen und uns das Genick brechen. Wir schaffen die Aufgabe souverän.

Danach ist die klemmende verrostete Kellertür aufzuschließen, ohne dass wir uns eine offene Wunde einhandeln und damit einhergehend eine Blutvergiftung zuziehen. Auch das klappt erfreulich problemlos. Wir öffnen die schwere Tür und uns schlägt ein modriger Geruch entgegen, der die Minen von Moria aus ‚Herr der Ringe‘ als besuchenswertes Naherholungsgebiet erscheinen lässt.

Als letztes müssen wir nun durch die engen, niedrigen Kellergänge gehen, ohne mit dem Gesicht in Spinnweben hängen zu bleiben. Für den Sohn stellt diese Aufgabe kein Problem dar und er geht fröhlich pfeifend los. Da die Ausmaße des Ganges aber eher für Hobbits als für normalwüchsige erwachsene Männer ausgelegt sind, krieche ich gebückt wie Quasimodo zu unserem Kellerraum und schiebe mein Fahrrad neben mir her. Erreiche mit Rückenschmerzen den Kellerverschlag.

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Schaue mit einer Mischung aus Neid und Verachtung in den Kellerraum rechts von unserem. Der Keller des Nachbarn ist geradezu befremdlich akkurat aufgeräumt. Die Ordnung des nachbarlichen Kellers kann es problemlos mit unserem Wohnzimmer aufnehmen.

Menschen mit einem durchschnittlichen Hygieneempfinden zögen es wahrscheinlich sogar vor, Zeit in diesem Keller statt in unserem Wohnzimmer zu verbringen. Wir dagegen mögen unser Wohnzimmer sehr. Vor allem seit dem wir uns mit den dort lebenden Wollmäusen arrangiert haben („Es müsste mal wieder gesaugt werden.“).

Der Nachbar hat in seinem Kellerraum mehrere Regale aufgebaut, in denen er systematisch einige Kisten verstaut hat. Es gibt außerdem eine Werkbank und eine kleine Kommode, in der er seine Nägel, Schrauben und Dübel aufbewahrt. Sein Werkzeug hat er fein säuberlich an der Wand aufgehängt.

Ich selbst besitze nur sehr wenig Werkzeug. Das meiste davon hat mir mein Vater geschenkt. Wenn er zu Besuch kommt, ist er immer begeistert, wie pfleglich ich mit den Gerätschaften umgehe, so dass sie auch nach Jahren so gut wie keine Gebrauchsspuren aufweise.

Der Kellerraum links von unserem ist ebenfalls ein Kuriosum. Dort steht eine einzige Kiste auf dem Boden. Sonst nichts. Gar nichts.

Der Sohn fragt, wo diese Nachbarn ihre ganzen Sachen aufbewahren. Sage ihm, ich wüsste es auch nicht. Wahrscheinlich litten sie an einer ausgeprägten psychischen Störung. Diese führe dazu, dass sie unnütze Dinge unverzüglich wegwerfen, anstatt sie wie normale Menschen in den Keller zu bringen und bis zum nächsten Umzug zu vergessen.

Der Sohn schaut in unseren Kellerverschlag und ist erleichtert, dass wir diese Krankheit nicht haben. Nicke ihm zustimmend zu.

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Unser Keller ist die Anti-These der beiden benachbarten Räume. Er ist bis zur Decke vollgestopft mit altem Ramsch. Selbst für versierte Chaostheoretiker ist in der Anordnung der alten Möbelstücke, Kisten und Müllsäcke kein Ordnungssystem auszumachen.

Letztes Jahr bot sich eigentlich eine ganz hervorragende Gelegenheit, den Keller einmal richtig auszumisten. Im Sommer wurde nämlich in den Keller eingebrochen. Bevor der Einbrecher anfangen konnte, die Kellerräume auszuräumen, vertrieben ihn jedoch zwei couragierte Studenten aus der WG im dritten Stock.

Ich konnte die Begeisterung der anderen Hausbewohner für diese angeblich heroische Tat nicht ganz teilen, wurde dadurch doch eine wunderbare Möglichkeit zunichte gemacht, dass wenigstens ein Teil des Krempels aus unserem Kellerverschlag kostengünstig und vor allem ohne viel Aufwand meinerseits entsorgt wird. Aber die Herren Studenten mussten ja unbedingt die Helden spielen („Die müssten mal geohrfeigt werden.“).

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Öffne nun unseren Kellerverschlag. Muss zunächst einen ausrangierten Kinderstuhl, einen Tapeziertisch und ein sperriges Puppenhaus beiseite räumen, um mir Zugang zu dem Raum zu verschaffen. Dort erwarten mich viele Kisten. Sehr viele Kisten. Unzählig viele Kisten.

Unser Kellerraum ist der Beweis für das so genannte Kisten-Kellerraum-Paradoxon. Dabei übersteigt die Summe des Volumens aller Kisten das Volumen des Raumes, in dem sie aufbewahrt werden. Eines der großen Rätsel der Menschheitsgeschichte („Das müsste mal untersucht werden.“).

Selbstverständlich ist keiner der Kartons in unserem Keller beschriftet. Daher ist es ein jährlich wiederkehrendes Phänomen, dass ich in jede Kiste schauen muss und erst in der letzten die Weihnachtsdekoration entdecke. Es ist auch vollkommen egal, in welcher Reihenfolge ich die Kisten öffne. Erst im allerletzten Karton befindet sich das weihnachtliche Deko-Material. So will es das Kisten-Öffnen-Gesetz. Ein weiteres großes Rätsel der Menschheitsgeschichte („Das müsste auch mal untersucht werden.“).

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Mache mir im schummrigen Licht an der ersten Kiste zu schaffen. Sie enthält ein paar alte Klamotten, die sich beim Kita-Flohmarkt als unverkäuflich erwiesen hatten. Frage mich, wie sie in die Kiste gekommen sind und die Kiste wiederum in unseren Keller gelangt ist. Und warum sie immer noch dort steht, wo doch schon seit zweieinhalb Jahren keines unserer Kinder mehr in die Kita geht. Fragen über Fragen („Die müssten mal beantwortet werden.“).

Derweil findet der Sohn in einer Tüte seine alten Dinosaurier-Figuren. Empört stellt er mich zur Rede, ich hätte ihm doch vor ein paar Jahren erzählt, seine Dinos seien in ein fernes Land vor unserer Zeit ausgewandert. Erwidere, dies sei korrekt und sie machten lediglich einen Kurzurlaub in unserem Keller. Maulend sucht der Sohn weiter nach einem möglichen Schatz.

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Finde in der nächsten Kiste alte Unterlagen und Bücher aus meinem Soziologie-Studium, darunter eine Einführung in Theorien zur gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Hege große Zweifel, dass mir solche Werke noch von Nutzen sind, wo doch das Chaos im Keller sehr real ist („Die Bücher müssten mal weggeworfen werden.“).

Danach fällt mir eine alte Seminararbeit in die Hände: „Über den Unterschied im Kommunikationsverhalten von Männern und Frauen am Beispiel von Toilettensprüchen – eine sozialwissenschaftliche Analyse“. Komme nach kurzem Überfliegen der Arbeit zu dem Schluss, dass sie die Begriffe „sozialwissenschaftlich“ und „Analyse“ sehr strapaziert. Im besten Fall könnte sie euphemistisch als kreative Anwendung soziologischer Theorien und Methoden gewürdigt werden. Beschließe, sie zu vernichten, damit sie nicht in falsche Hände gerät und mir mein Diplom aberkannt wird.

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Entdecke im nächsten Karton ein paar halbleere Dosen mit Farben, Lacken und Leim sowie einige Kanister mit Terpentin. Benebelt von den ausströmenden Dünsten erfreue ich mich an den rosafarbenen Elefanten, die in unserem Keller Tango tanzen. Murmele halblaut, das sei besser als Kiffen.

Der Sohn will wissen, was Kiffen ist. Gebe ihm statt einer Antwort sein altes Laufrad, das in einer Ecke steht. Begeistert setzt er sich auf das Rad und fährt wie der sprichwörtliche Affe auf dem Schleifstein den Kellergang auf und ab.

Dabei simuliert er äußerst realistisch die Geräusche eines Motorradrennens auf dem Nürburgring. Bekomme heftige Kopfschmerzen davon (wobei auch dies vielleicht auf die ausdünstenden Lösungsmittel zurückzuführen ist). Lasse den Sohn aber als moderner konfliktvermeidender Vater gewähren („Die Kinder müssten strenger erzogen werden.“).

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Die nächste Kiste bringt etwas Undefinierbares zutage. Was auch immer es ursprünglich war, es ist anscheinend mehrmals feucht und wieder trocken geworden. Bis es zu einer neuen, leicht pelzigen Lebensform mutiert ist. Bilde mir ein, das Ding stößt ein drohendes Knurren aus (auch das könnten Nachwirkungen der halluzinogen wirkenden Lösungsmittelausdünstungen sein).

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Habe alle Kisten durchsucht und öffne den letzten Karton. Ein pausbäckiger Weihnachtsengel lacht mich freundlich an. Ein pausbäckiger Weihnachtsengel mit abgebrochenem Flügel, um genau zu sein.

Erinnere mich daran, wie die Freundin letztes Jahr sagte: „Der Engel müsste geklebt werden, bevor er wieder in die Kiste kommt.“ und ich darauf zu meiner eigenen Überraschung erwiderte, ich werde mich darum kümmern. Stecke den Engel zur Vermeidung unnötiger und unvorweihnachtlicher Diskussionen mit der Freundin in die Kiste mit der mutierten Lebensform. Diese begrüßt den neuen Gast freundlich schnurrend.

Schnappe mir die Weihnachtskiste und verfrachte alle anderen Kartons an ihre angestammten Plätze. Als letztes stelle ich das Fahrrad innen vor den Eingang und verschließe die Tür. Nun ist zwar der Zugang zum Kellerraum versperrt, aber darüber muss ich mir erst im nächsten Frühjahr wieder Gedanken machen.

Teile dem Sohn mit, dass wir uns auf den Rückweg zur Wohnung machen würden. Er ist enttäuscht, dass wir keinen Schatz gefunden haben, ich bin erleichtert, dass wir uns keine schwerwiegenden Verletzungen zugezogen haben.

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Oben angekommen, fragt die Freundin, ob wir auch den Christbaumständer mitgebracht hätten. Der müsse noch repariert werden. Verneine ihre Frage und versuche sie davon zu überzeugen, dass wir dann dieses Jahr wohl keinen Weihnachtsbaum haben, da ich erst wieder im März in den Keller ginge. Sie schaut mich kritisch an und macht nicht den Eindruck,  meiner auf tönernen Füßen stehenden Argumentation zu folgen.

Es hilft wohl alles nichts. Ich muss erneut in den Keller. Und irgendwo habe ich den Ständer eben auch gesehen. War es hinter dem alten Liegestuhl? Oder neben der kaputten Stehlampe? Oder doch unter dem ausrangierten Drucker?

Der Keller müsste definitiv mal aufgeräumt werden. Im Frühjahr. Vielleicht.