Die Strecke zwischen Pondicherry und Cochin – knapp 500 Kilometer Luftlinie – liesse sich im Auto in zwei Tagen zurücklegen. Aber ich bin ja nicht hier, um Strecken zurückzulegen, sondern um Südindien zu erfahren. Drum liessen wir uns, mein Fahrer und ich, fünf Tage Zeit. Und noch das war zu kurz. – Ein Reisebericht.
Erste Station war Chidambaram, ein üppiger Tempel etwa drei Fahrstunden südlich von Pondicherry. Der Reichtum an Abbildungen und Figuren in indischen Tempeln – und in diesem ganz besonders – ist fast nicht zu beschreiben. An der Aussenfassade der Türme zum Beispiel findest du keinen Quadratzentimeter, der nicht bildlich gestaltet ist. In den Hallen gibt es Hunderte von Säulen, von denen jede einzelne ein Wunderwerk der Bildhauerkunst darstellt. Die Wände, die Decke, der Boden unter deinen Füssen: alles ist überbordende Bildlichkeit. Und diese stille Bilderflut geht fast unter in einer Fülle von weiteren Eindrücken: würzige Düfte von Räucherwerk – und von ranziger Butter, mit der die vielen Öllämpchen betrieben werden, die von den Gläubigen an bestimmten Orten angezündet werden; betende TamilInnen, teils still für sich, teils murmelnd, was sich in der Masse anhört wie ein Schwarm grösserer Bienen; dazu die feuchte Kühle der vom Tageslicht weitgehend abgeschotteten Kammern und Hallen im Tempelinnern. Dann ist da noch ein Empfinden, das sich nur schwer beschreiben lässt. Es hat mit dem Alter der Tempelanlage zu tun: etwas Dunkles aus Urzeiten dringt hier ins Licht der Gegenwart, an mich heran, das mich, ohne nun in einen Glauben zu verfallen, mit Ehrfurcht erfüllt.
Wohin das Auge auch blickt – überall Figuren und Bilder
Thanjavur
Thanjavur, der erste Übernachtungsort, ist nicht wirklich erwähnenswert. Zumindest habe ich nicht viel von dieser Stadt mitbekommen. Mit jedem Tag wird es wärmer in Südindien, Inzwischen steigt die Temperatur gegen 34 Grad. In den Städten ist diese Hitze, zusammen mit der recht hohen Feuchte, fast schon unerträglich. Hinzu kommt der laute, chaotische Verkehr, die schlechte Luft, eine doch recht heruntergekommenen Infrastruktur und die vielen, vielen Menschen. Das ist nicht jedermanns Sache.
Es gibt Touristen, die kommen nur einmal nach Indien und nie wieder. Wer mag es ihnen angesichts solcher Städte wie Thanjavur verdenken? Andere kommen immer wieder. Sie lassen sich auf seltsame Art von manchen Dingen faszinieren, die andere abstossen. Sie erfahren zudem täglich, dass Indien sehr viel mehr ist als durchglühte und aus ihren Nähten platzende Städte, sehr viel mehr als marode Infrastruktur und verbreitete Armut. Sie sehen das Wunder, das Indien in seiner Vielfalt darstellt, dessen reiche, gehaltvolle Kultur. Sie sehen auch, dass Indien nicht bloss irgend ein Land ist oder ein Subkontinent, sondern eine eigene Welt – nun ja, das gilt natürlich für jedes Land – und in gewissem Sinne ein eigener Planet. Zu diesen Menschen gehöre ich.
Doch Thanjavur ist dieses Mal an mir vorbei gegangen. Zu müde war ich, um mich noch ins Getümmel zu stürzen. Das Hotel lag auch nicht gerade günstig, zudem hatte ich meinem Fahrer frei gegeben. Und irgendwann muss ich ja auch noch niederschreiben, was ich gesehen und erlebt habe.
Madurai
In dieser Stadt bin ich zum ersten Mal so richtig auf die Probe gestellt worden. Ich war schon etwas dünnhäutig, als wir nach fast fünf Stunden Fahrt ins Hotel kamen. Das Unterwegssein ist herausfordernder als gedacht. Das hängt damit zusammen, dass meine Selbständigkeit weitgehend eingeschränkt ist und darunter meine Selbstbestimmung leidet – zwischendurch weitergehend, als mir lieb ist … Das wiederum hat damit zu tun, dass praktisch nichts rollstuhlgängig ist, ich mich also, ausser vielleicht im Hotel, oft kaum selbständig bewegen kann. Hinzu kommt – und das ist das Los vieler Touristen, die mit einem Chauffeur unterwegs sind –, dass sich der Fahrer nun mal besser auskennt. Chauffeure verstehen sich immer auch ein wenig als Touristenführer und setzen, wenn man sich nicht kräftig wehrt, bald einmal ihre Vorstellungen um, schleppen dich über die ausgetretensten Touristenpfade, womöglich durch einschlägige Läden und machen am Schluss mit dir, was sie wollen … Natürlich kann man sich wehren. Aber sie sitzen wegen ihres Wissensvorsprungs am längeren Hebel. Bei Rajendran, meinem Fahrer, habe ich schon viel «Erziehungsarbeit» geleistet, aber es ist eine Illusion, diesen Mechanismus vollständig ausser Kraft setzen zu können.
Die Anlage des Minakshi-Tempel in Madurai aus der Vogelperspektive. Bild: Essaar, CC-Lizenz via Wiki-Commons
Ich war also etwas dünnhäutig, als wir am Nachmittag den Minakshi-Tempel besuchen gingen. Rajendran hatte nach Rücksprache mit mir einen Helfer organisiert. Erst im letzten Augenblick erfuhr ich, dass der iPad im Tempel nicht erlaubt sei und ich den abgeben müsse. Von dieser Neuigkeit war ich alles andere als begeistert, ja, ich war nahe daran, die Übung «Tempel» abzublasen. (Mein iPad mini ist so etwas wie ein kleines Fenster nach zuhause. Und das gebe ich niemandem ab, und sei es der Chief Security Minister of Kerala himself.) Die Tatsache, dass zwar Smartphones erlaubt waren, aber der iPad nicht, machte mich obendrein argwöhnisch. Denn was für eine zusätzliche Gefahr stellt ein iPad gegenüber einem Smartphone dar, so dass eine solche Bestimmung gerechtfertigt wäre? Zudem war plötzlich eine dritte Person hinzugestossen. Ein Angestellter des Tempels, der offenbar wegen meines Rollstuhls zu unserer Begleitung abbestellt worden war. Oder hatte er sich selbst abbestellt? Am Schluss willigte ich dann doch ein, unter der Voraussetzung, dass Rajendran den iPad in unserem Auto diskret deponieren und dann wieder zu uns stossen würde. Ich brauchte ihn, weil er als einziger mit dem Rollstuhl umzugehen wusste. Und es gibt im Minakshi-Tempel ganz schön viele Stufen und Treppen. Als ich schliesslich zu einer Reisegruppe von Rollstuhlfahrern aus Gujarat geschoben wurde, die in einer Schlange anstanden, um durch die gesonderte Sicherheitskontrolle zu gelangen, wäre ich um ein Haar ausgeflippt – und bin es zum Glück nicht … Zunächst verstand ich einfach nicht, weshalb ich mich überrhaupt zu den Rollifahrern einreihen sollte. In einem solchen Fall überkommt mich jeweils ein jähes Bedürfnis nach Abgrenzung. (Warum eigentlich?) Schliesslich empfand ich mich wie ein herumgeschobener Behinderter. Mein Hals wurde dicker und dicker, so dass mir bald wirklich der Kragen platzte. Als ich allerdings entdeckte, dass die meisten dieser Rollifahrer so wie ich Polio gehabt haben mussten, und mir von ihnen ein freundliches Interesse entgegenkam, wurde ich für den Augenblick wach, und der Ärger verflog. Sie sassen in alten, schweren Rollstühlen, teilweise zu zweit, und waren begleitet von ein paar wenigen Fussgängern. Und sie waren um vieles glücklicher und freundlicher, als ich es derzeit war, so dass ich mich für meine nichtige Misslaune furchtbar schämte.
Die Sicherheitskontrolle war dann wirklich rigoros, so dass ich den iPad unmöglich hätte hineinschmuggeln können, wie ich das erwogen hatte – nicht um etwas damit anzustellen, sondern um ihn nicht abgeben zu müssen. Unsere Begleiter verstanden sich bald eher als Touristenführer denn als Helfer, was mich insofern störte, dass sie mir vor einzelnen Figuren eindringlich die Details der indischen Götterwelt näherzubringen versuchten – was mich, ich gestehe es, gar nicht besonders interessierte –, während ich eigentlich nur schauen wollte – und lauschen und riechen … Aber ich konnte sie ja nicht einfach abstellen.
Im Laufe des Nachmittags kam es im Tempel immer wieder zu einzelnen Begegnungen mit den rollstuhlfahrenden Pilgern aus Gujarat. Sie suchten die Begegnung mit mir oder ich suchte sie mit ihren. Oft war auch ein kurzes Gespräch möglich. Die meisten von ihnen hatten wirklich Kinderlähmung gehabt. Sie waren um einiges beweglicher als ich – aber auch viel jünger. (Dies zu meiner Verteidigung …) In Gujarat leben sie gemeinsamen in einem Heim, was in Indien eher die Ausnahme ist. Die Reise nach Südindien verstehen sie als Pilgerreise.
Thekkady
Weite Gebiete des indischen Bundesstaates Tamil Nadu sind topfeben. Es ist deshalb geradezu eine Erlösung, als wir – nachdem ich fast sechs Wochen in Tamil Nadu verbracht habe – ein erstes Mal in die Berge kommen. Der Aufstieg nach Thekkady, dem Grenzort in Kerala auf etwa 1’000 Metern Höhe, dauert bloss eine halbe Stunde. Doch es ist der Eintritt in eine völlig andere Welt: dichter tropischer Dschungel mit Baumriesen, wohin das Auge reicht; höchst angenehmes Klima mit erfrischenden Nächten; die Dörfer und Städte sind weniger ärmlich, die Auslagen in den Läden üppiger. Kerala ist deutlich reicher als Tamil Nadu. Hauptgrund: Es gibt genügend Wasser. Hinzu kommt, dass Kerala über Jahrzehnte von den Kommunisten regiert wurde: Die Mindestlöhne sind höher, die Menschen besser ausgebildet, die Infrastuktur ist in besserem Zustand.
In Thekkady verbringe ich zwei Tage. Ich fühle mich pudelwohl. Nicht nur wegen des Klimas. Ich habe auch ein zugängliches Zimmer in einer schönen Hotelanlage und kann mich völlig frei bewegen. Auch das eine Erlösung.
Die gediegene Hotelanlage des «Cardamon County». Im Häuschen rechts lag mein Zimmer.
Am zweiten Tag geht es auf eine Tour mit dem Jeep. Hier ein paar Eindrücke dazu:
Blick von den Western Ghats auf die Ebene Tamil Nadus
Im Jeep unterwegs
Fort Cochin
Letzte Station, bevor ich zu meinen Schweizer Bekannten auf Vypin Island stosse, ist Fort Cochin, ein touristischer Ort an der Westküste Keralas. Auf Meereshöhe ist die feuchte Hitze inzwischen grenzwertig. Und es wird Tag für Tag heisser. Alles klebt. Und in der Nacht findest du ohne Ventilator oder Klimaanlage kaum noch Schlaf. Manchmal frage ich mich schon, weshalb ich mir das alles zumute. Doch dann kommt vom Meer her eine sanfte Brise. Ein kleines Lüftchen genügt, und alles sieht schon wieder besser aus …
Es gibt hauptsächlich zwei Gründe, weshalb ich in Fort Cochin einen Zwischenhalt einlege: Von der Promenade aus sieht man die Hochseeschiffe in den Hafen von Ernakulam einlaufen. Fragt mich nicht, weshalb mich das so fasziniert! Die meisten der riesigen Frachtschiffe haben schon bessere Tage gesehen und strotzen nur so vor Rost. Keine zweihundert Meter von mir entfernt türmen sie sich auf und ziehen langsam vor meinen Augen vorbei. Manchmal meine ich die Matrosen wie geschäftige Ameisen auf dem Schiff herumklettern zu sehen. Weiter draussen im offenen Meer wartet schon das nächste Schiff.
Der zweite Grund ist die Old Harbour Road. Diese habe ich in diesem Artikel beschrieben.
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