Von der Erosion der Demokratie und von politischer Entwurzelung

Wer heute mit offenen Augen durch die politische Landschaft läuft, der kann nicht umhin, eine schmerzliche Feststellung zu machen: Die parlamentarische Demokratie ist so gut wie tot. In Expertenkreisen spricht man von der sogenannten “Postdemokratie”, politisch weniger zarte Gemüter nennen es Ellenbogenkapitalismus. Ich selbst spreche in einem meiner Artikel für Deutschland von einer “föderalen, neoliberalen Lobbykratie und Parteienoligarchie”. Wie auch immer man es definiert: Mit einer funktionierenden repräsentativen und parlamentarisch geprägten Demokratie hat es nicht mehr viel gemein. Und jetzt frage ich mich: Was ist für mich das politische System der Zukunft? Was meine weltanschauliche Heimat?

Als ich zu bloggen begann, im April 2005, war ich so gerade noch Sozialdemokrat, beobachtete aber schon seit einer ganzen Weile die Gründung der “Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit” mit Sympathie. Trotz meiner Zweifel und meines Ärgers, trotz der Enttäuschung über die unsozialen Entscheidungen einer Regierung aus SPD und Grünen war ich jedoch jederzeit bereit, das Hohe Lied auf den Parlamentarismus zu singen. Sicher: Mir wäre ein Parlamentarismus mit mehr plebiszitären Elementen lieb, und ich hätte mir gewünscht, man würde das Volk endlich mal über das Grundgesetz abstimmen lassen, um ihm noch mehr Legitimation zu verschaffen, aber im Großen und Ganzen hielt ich die parlamentarische Demokratie für eine Staats- und Regierungsform, die mit genügend Korrekturmechanismen und Selbstreinigungskräften ausgestattet sei, um auch schwere Krisen zu überwinden.

Doch inzwischen hat sich die Situation geändert. Im letzten Jahr habe ich mich in vielen teils wütenden, teils traurigen Betrachtungen in diesem Blog von der parlamentarischen Demokratie verabschiedet. In jeder ihrer Entscheidungen erkenne ich mittlerweile das Wirken der Lobby der Mächtigen und Reichen, das skrupellose Verprassen der erarbeiteten Werte des Volkes. Dass dabei für eine Mehrheit noch immer ein gewisser Wohlstand übrig bleibt, und dass das Volk selbst, das doch in Schulen, Bürgerinitiativen und Parteien zumindest früher einmal auf seine Möglichkeiten des Eingriffs und der Mitgestaltung hingewiesen wurde, keinerlei Anstrengungen unternimmt, den Ausverkauf seiner Werte in materiellem wie ideellem Sinne zu unterbinden, ist vermutlich der Grund für das funktionieren dieser infamen Ausbeutung und Selbstbedienung. Viele mögen auch noch nicht durchschaut haben, dass die ehemals halbwegs demokratischen Institutionen nur noch Fassade und Kulisse sind. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass früher alles besser war. Ich bin nicht der Ansicht, dass es Ausbeutung und Korruption, Lobbyherrschaft und Ungerechtigkeit früher nicht gab. Das wäre für einen politisch denkenden und aufgeschlossenen Menschen ein Armutszeugnis. Nein: Ich bin lediglich der Meinung, dass früher durch mehr verantwortungsvollen, wirtschaftlich unabhängigen und qualitativ hochwertigen Journalismus, durch unerschrockene Bürgerinitiativen, soziale Bewegungen und mutige Politiker aller Couleur mehr Möglichkeiten bestanden, der Tendenz zur rein wirtschaftlichen Gestaltung des Staates entgegen zu wirken. Diese Selbstheilungskräfte innerhalb der parlamentarischen Demokratie vermisse ich inzwischen. Und dort, wo sie möglicherweise noch existieren, in der Occupy-Bewegung und den Foren, die man unter dem Begriff “Echte Demokratie Jetzt” kennt, frage ich mich, ob sie noch auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie stehen. Das Schlimme ist, dass viele Menschen die Erosion der Demokratie erkannt haben, dass aber im selben Maße auch ihre Akzeptanz schwindet, so dass niemand mehr bereit ist, für sie einzutreten. In diesem Sinne hat mich auch die Wahlalternative enttäuscht, ihr war es nicht möglich, genügend Menschen zu mobilisieren.

Dieser Zustand ist es vermutlich, der erklärt, warum ich mich inzwischen politisch heimatlos fühle. Die alten Werte haben keine Bedeutung mehr, politische Strukturen verschwinden, selbst wenn sie offiziell noch existieren, sie sind ein potemkinsches Dorf geworden. Was also tun?

Der Weg zu einer irgendwie gearteten kommunistischen Ideologie scheint vorgezeichnet. Wer soziale Gerechtigkeit will, Mitbestimmung und möglichst viel Freiheit, und wer die Verlogenheit und Ungerechtigkeit des herrschenden bürgerlichen Systems erkannt hat, der muss doch zwangsläufig Kommunist werden? Weit gefehlt: Für mich gibt es nach wie vor mehrere Gründe, die kommunistische Ideologie abzulehnen. Einer der Gründe ist, dass ich nicht an die geschichtliche Unausweichlichkeit und Folgerichtigkeit der Lehren von Karl Marx glaube. Nach der bürgerlichen Revolution komme die sozialistische, erklärte er, doch die sozialistischen Staaten sind gescheitert, die Revolutionen wurden zurück gedreht, die ehemals sozialistischen Staaten sind bürgerlicher dennje. Und dann ist da das Wirtschaftssystem, das bestenfalls ein organisierter Mangel ist, wie der real existierende Sozialismus gezeigt hat. Und last but not least herrschte in den Staaten, in denen man den Sozialismus ausprobiert hat, Unterdrückung von Meinungen, wenig echte, gestalterische Mitbestimmung und ebenfalls eine Ausbeutung durch die Mächtigen. Das ist offenbar eine Grundtendenz menschlichen Handelns, vielleicht ist es in unsere Gene bereits einprogrammiert.

Zurück also zu einer echten sozialen Marktwirtschaft mit einer durch mehr Mitbestimmung gestärkten parlamentarischen Demokratie? Aber wie kann man dies erreichen? Die Politik müsste die Kraft und Stärke besitzen, ihre Vereinnahmung durch die Wirtschaft zumindest teilweise abzuschütteln. Inzwischen sind aber bereits Meinungsäußerungen dieser Art problematisch. Sie dürfen getätigt werden, aber man nimmt sie nicht besonders ernst, und den meisten Menschen ist es ohnehin egal. Notwendig wäre ein neues politisches Bewusstsein, aber das liegt nicht einfach so auf der Straße.

Ich gebe zu: Ich fühle mich politisch entwurzelt. Mein Vertrauen in die Demokratie in Deutschland ist dahin, selbst das von mir trotz mancher Meinungsverschiedenheiten hoch geachtete Bundesverfassungsgericht verliert dieses Vertrauen inzwischen, da es all zu oft bereit ist, eklatante Verfassungsverstöße verfassungskonform auszulegen. Außerdem kann eine funktionierende Demokratie nicht durch ein politisches Gericht regiert werden. Für diese Probleme und Entwicklungen habe ich keine Lösung, keinen Plan, keine Road map. Derzeit bleibt mir nur eine Zustandsbeschreibung, und das ist weniger, als ich für politisch notwendig erachte.


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