Er geht zunächst auf die besonderen deutschen Verhältnisse nach dem Augsburger Religionsfrieden vom 25. September 1555 und dem 30jährigen Krieg (1618 – 1648) Krieg ein. Die deutschen Lande waren seinerzeit von größter territorialer Zersplitterung gekennzeichnet. Mehrere Hundert weltliche und geistliche feudale Landesherrn übten die reale politische Macht im Reiche aus. An einen Nationalstaat und eine Nationalökonomie war noch nicht zu denken. Ganz im Gegensatz zu England, Frankreich und den Niederlanden, wo die europäische Frühaufklärung ihren Anfang nahm. Im deutschen Reich kam noch eines erschwerend für den gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt hinzu: Hier galt der Rechtsgrundsatz, daß sich der religiöse Glaube der Untertanen nach der Religion des jeweiligen Landesherrn zu richten habe. Diese Zwangsreligion diente als Herrschaftslegitimation („Von Gottes Gnaden“). In den evangelischen Territorien war der Landesfürst zugleich als „summus episcopus“ Oberhaupt der jeweiligen Landeskirche (selbst wenn er, wie in Sachsen, persönlich katholischer Konfession war).
Da sich unter diesen Umständen das Bürgertum als dem wichtigsten Träger emanzipatorischer Ideen nur schwer entwickeln konnte, konnten sich aufklärerische Ideen nur langsam und punktuell durchsetzen. Es blieb also noch ein langer Weg bis zum Wirken von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), Immanuel Kant (1724 – 1804), Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781 ), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) oder Karl Marx (1818 – 1883).
Bezugnehmend auf Marx („Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“) schreibt Jestrabek ernüchternd: „Freilich blieb auch dieses Postulat nur eine theoretische Feststellung. Die praktische Umsetzung dieser Erkenntnis harrt bis heute der Realisierung.“ (S. 22) Und er fügt hinzu, daß „unser aufgeklärtes 21. Jahrhundert verständnislos auf die Länder des Islam“ schaue. Dabei sei doch dies real: „Noch immer harrt insbesondere Deutschland einer durchgehend laizistischen Gesetzgebung und einer konsequenten Trennung von Kirche und Staat bzw. Kirche und Schule/Ausbildung/Beruf.“ (S. 24)
Bevor Jestrabek sich dann den drei wichtigesten Persönlichkeiten der deutschen Frühaufklärung zuwendet, porträtiert er kurz einige andere Wegbereiter: Friedrich Wilhelm Stosch, Gabriel Wagner, Theodor Ludwig Lau, Urban Gottfried Bucher, Samuel Pufendorf, Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Thomasius, Gottfried Arnold, Christian Wolff, Georg Schade, Christian Reuter. Und er verweist auch auf deren wichtigste Publikationen.
Matthias Knutzen (1646 – nach 1674) ist, so Jestrabek, „der erste deutsche Religionskritiker und namentlich bekannte Atheist in der europäischen Geistesgeschichte der Neuzeit. Ein in seiner Zeit immerhin todeswürdiges Delikt.“ (S. 45) Beleuchtet wird der schwere Lebensweg dieses Mannes ebenso wie seine wichtigsten Schaffensorte (Königsberg, Jena). Knutzen befaßte sich u. a. mit den Lehren Spinozas (1632 – 1677) und mit denen von Kazimierz Łyszczyński (1634 – 1689). Der Todestag des letzteren wird im heutigen Polen übrigens als „Tag des polnischen Atheismus“ begangen. Der Adlige Łyszczyński schrieb, daß der einzige Sinn des Glaubens darin bestünde, daß dadurch die Armen unterdrückt werden könnten. Für solche Worte verurteilte ein Kirchengericht (!) den mutigen Mann zum Tode und ließ ihn unbarmherzig hinrichten. Doch zurück zu Knutzen. Dieser tauchte im September 1674 in Jena auf und begann hier mit der Verbreitung von eigenen Flugschriften, von denen drei erhalten geblieben sind. Darin ist u. a. die Rede von einer Gemeinschaft von Freidenkern, die er „Gewissene“ nennt. Und er entkräftet darin die Autorität der sogenannten Heiligen Schrift Bibel durch die Aufdeckung deutlicher Widersprüche in deren Texten.
Im Anschluß wendet sich Jestrabek dem vermutlichen Autoren der Schrift „Von den drei Betrügern“ zu: Johann Joachim Müller (1661 – 1733): „Wenn von den drei Begründern der mosaischen, christlichen und islamischen Religion (Moses, Jesus, Mohammed) als von den ‘drei Betrügern’ gesprochen wird, wanken alle ihre Glaubensgründe.“ (S. 60)
Müller greift mit seiner Schrift auf sehr alte Vorlagen zurück, deren erste um 900 im Reiche der Bagdader Kalifen nachweisbar sind. Einher mit der Legende von den drei Betrügern sei auch mit der Ringparabel die Toleranzforderung gegangen. Dieses Motiv habe dann Lessing in seinem Drama „Nathan der Weise“ verarbeitet, wie auch die Lehren aus dem Fragmentestreit (s.u.).
Der dritte vorgestellte Frühaufklärer ist Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768). Es war Lessing, der die von Reimarus hinterlassenen Fragmente veröffentlichte und damit „die wohl größte theologische Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts“ auslöste. Jestrabek hebt hervor: „Der Fragmentestreit brachte (…) auch größere Teile der bis dahin ungetrübt blindgläubigen Untertanen dazu, die Widersprüche in der Bibel zu erkennen und diese ‘göttlich inspirierten’ Schriften erstmals als Menschenwerk anzusehen.“ (S. 68) Reimarus’ Bibelkritik hat, so Jestrabek, erhebliche Impulse für die historisch-kritische Aufarbeitung der Schriften des Alten und Neuen Testaments gegeben.
Im fünften Fragment, das die Ursache des seinerzeitigen Skandals war, stellte Reimarus die zentrale Aussage der Evangelien, die angebliche Auferstehung von Jesus, in Frage. Reimarus stellte hierin die sich erheblich widersprechenden Aussagen bzw. Nichtaussagen der vier Evangelisten gegenüber.
Im Textteil folgen dann Knutzens erhaltene lateinsprachliche Flugschriften in deutscher Übersetzung, Müllers sehr argumentive Schrift über die drei Betrüger und zwei der Reimarus-Fragmente.
Aus dem Auferstehungsfragment soll etwas ausführlicher zitiert werden. Zur neutestamentlichen Geschichte greift er u.a. zehn unheitliche Aussagen der vier Evangelisten heraus. Zur ersten schreibt Reimarus: „Bei Johannes gehet Maria Magdalena allein zum Grab, beim Matthäus die Maria Magdalena und die andere Maria, beim Markus die Maria Magdalena, Maria Jacobi und Salome, beim Lukas die Maria Magdalena, Johanna und Maria Jacobi und andere mit ihnen.“ (S. 161/162) Reimarus macht ferner zehn Widersprüche aus und referiert diese ausführlich.
Heiner Jestrabek gebührt großes Lob für seine komplexe Aufarbeitung eines fast vergessenen Teiles der frühen Aufklärung im deutschen Sprachraum. Und wie der aufmerksame Leser spürt, die drei besonders vorgestellten Persönlichkeiten haben ihre Spuren im Geistesleben hinterlassen, auch wenn das den wenigsten unter uns wohl kaum bewusst war/ist.
Siegfried R. Krebs
Heiner Jestrabek: Frühe deutsche Religionskritik. 186 S. m. Abb. Klappenbroschur. Edition Spinoza im Verlag Freiheitsbaum. Reutlingen und Heidenheim 2013. 14 Euro. ISBN 978-3-922589-55-1[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar und hpd]