Von Blair zu Corbyn, von Obama zu Sanders?

Gestern gewann der vor kurzem noch obskure Hinterbänkler Jeremy Corbyn die Wahl zum Labour-Parteivorsitzenden in Großbritannien. Fast zeitgleich kam die Nachricht, dass Bernie Sanders - Senator aus Vermont, Sozialdemokrat und Präsidentschaftskandidat bei den Democrats - Hillary Clinton zum ersten Mal in Umfragen in Iowa, dem ersten Vorwahl-Staat¹, überholt hat. Ist hier ein neuer Aufschwung der Linken, ist das Teil eines allgemeinen populistischen Trends, der auf der Rechten genauso seine Entsprechung findet, oder was passiert hier? Sowohl Corbyn als auch Sanders haben bereits Kritik aus den eher gemäßigten Teilen ihrer jeweiligen politischen Strömungen bezogen, und ein britischer Bekannter meinte jüngst zu mir: "We're about to elect Lafontaine as Labour deputy." Sehen wir uns beide Phänomene also etwas genauer an.
Jeremy Corbyn ist tatsächlich ein ungewöhnliches Phänomen in Großbritannien. Der Großteil seiner politischen Forderungen schreit geradezu "Old Labour" und wendet sich gegen praktisch alles, was Tony Blair in seiner radikalen Umwandlung der Partei zu New Labour 1997 an die Macht brachte. Corbyn will die Infrastruktur des Landes (vor allem die Eisenbahnen) wieder verstaatlichen, die EU grundlegend reformieren (aber gleichwohl Mitglied bleiben), TTIP ablehnen, die Bank of England anweisen Geld zu drucken um Sozialmaßnahmen zu finanzieren und die Steuern erhöhen, vor allem für die Reichen. Er plädiert zudem für einen Austritt Großbritanniens aus der NATO, ein freundschaftlicheres Verhältnis zu Russland und diversen arabischen Staaten und eine Wiedereröffnung der in den 1980er und 1990er Jahren geschlossenen britischen Kohlebergwerke. Thatchers brutale Vernichtung der Gewerkschaften in den großen Bergwerk-Streiks der frühen 1980er sind ein Labour-Trauma geblieben.
Corbyns Erfolg offenbart eine Sehnsucht nach Sicherheit, die von vielen Wählern vor allem mit der Zeit vor dem Eintreten der großen Globalisierungswelle nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verbunden wird. Dieses Bedürfnis teilen sie mit den Fans der rechten Populisten, deren Lösungvsvorschläge (sofern man deren Hasstiraden als solche adeln will) jedoch naturgemäß in eine andere Richtung gehen. Die Ähnlichkeiten von Corbyns Positionen mit denen der LINKEn in Deutschland sind wenig verwunderlich, speisen sie sich doch aus denselben Milieus und Mentalitäten. Auch Lafontaine sprach im Wahlkampf schon davon, die Kohlegruben an der Saar wiederzueröffnen. Die Gegnerschaft zu NATO und Auslandseinsätzen ist ebenfalls schon seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner in einem Subset der politischen Linken.
Corbyns Positionen sind daher nicht neu, und die NachDenkSeiten verschwenden auch keine Zeit damit aufzulisten, wo ihre erwarteten Vorteile liegen. Gleichwohl hat das ZDF Recht zu sagen, dass Corbyn "nicht nur bei Konservativen als linker Spinner gilt". Zahlreiche führende Labour-Funktionäre, die dem Schattenkabinett angehörten, haben ihren Rücktritt aus demselben eingereicht, und obwohl Corbyn mit rund 60% der Stimmen einen Erdrutschsieg erreicht hat, ist er bei den anderen 40% der Gottseibeiuns und, höflich ausgedrückt, umstritten. Ihn plagen außerdem dieselben Probleme, die viele Linke plagen: Corbyn ist und bleibt letztlich ein Mann der Vergangenheit. So sehr ich ihm darin zustimme, dass die verrottete britische Infrastruktur dringend aufgebessert werden muss und dass mehr Geld für soziale Leistungen angebracht ist, so kann ich über seine außenpolitischen Verrenkungen und seine Idee, den britischen Bergbau wiederzubeleben, nur den Kopf schütteln. Wie die deutsche LINKE auch will Corbyn vor allem zurück in die Zeit vor dem Mauerfall. Zu den Fragen und Technologien der Zukunft findet sich dieseits wie jenseits der Nordsee nichts in den klassischen linken Parteien.
Corbyn schleppt daher auch ein ernstes Wählbarkeitsproblem für Labour mit sich, das sich 2020 genauso schlimm auswirken könnte wie das berühmt-berüchtigte Wahlprogramm 1983 ("the longest suicide note in history"). Kein Zweifel dass Corbyn bei den Labour-Aktivisten extrem beliebt ist. Aber das reicht nicht für einen Wahlsieg, heute genausowenig wie 1983. Polarisierung ist nur eine erfolgversprechende Strategie, wenn die eigene Seite größer als die andere ist, wie auch die Republicans gerade wieder einmal erfahren müssen. Die Tories nutzten die Chance sofort und zeichneten Corbyn als "threat for the security of our country, economy and families". Es ist kaum vorstellbar, wie Labour bei den Wahlen 2020 die Aussagen Corbyns zu NATO, seine Nähe zu Hamas und anderen Organisationen oder seine unorthodoxen Politiken im Inland erklären will.
Das gleiche Problem stünde Bernie Sanders ebenfalls bevor, sollte er jemals Präsidentschaftskandidat der Democrats werden (was ihm aber wohl kaum gelingen wird). Sanders ist in seinen Positionen grundsätzlich weniger problematisch als Corbyn. Ein Großteil seines Programms ließt sich so, als ob die SPD es jederzeit unterschreiben könnte, selbst mit Steinbrück oder Steinmeier an der Spitze: Gesetzliche Krankenversicherung, höhere Steuern für Superreiche, stärkere Regulierung der Wallstreet, Steuererleichterungen für die Mittelschicht - Sanders ist ein ziemlich klassischer Sozialdemokrat. Weniger klassisch sind seine Ablehnung von TTIP und NAFTA sowie von Militäreinsätzen und NSA-Überwachung, aber er befindet sich nicht allzusehr im extremen Bereich - von Europa aus betrachtet. Bei den Aktivisten der Democrats, die wie Aktivisten aller Parteien und Strömungen in ihren Überzeugungen radikaler und lauter sind, fällt das alles auf extrem fruchtbaren Boden. Sanders gibt der Basis etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt - analog zu Corbyn in Großbritannien. Die Mechanismen des Vorwahlkampfs werden allerdings seinen Sieg verhindern und damit nicht den Test erbringen, der Corbyn in den nächsten fünf Jahren bevorstehen wird: wie attraktiv sind diese Forderungen für das amerikanische Volk insgesamt?
Und hier, so ärgerlich das auch ist, sieht die Sache eher düster aus. Sanders bezeichnet sich selbst als democratic socialist, aber viele seiner Positionen sind keinesfalls mehrheitsfähig, nicht in der eigenen Partei und schon gar nicht über ihre Grenzen hinaus. Eine gesetzliche Krankenversicherung ist im aktuellen politischen Klima utopisch und kürzlich erst in Sanders Heimatstaat Vermont selbst gescheitert. Auch massive Investitionen in Amerikas verrotete Infrastruktur, so notwendig sie auch wären, werden bei der breiten Ablehnung von Maßnahmen der Bundesregierung auf Ablehnung stoßen. Im vorherrschenden politischen Klima haben weder Corbyn noch Sanders eine Chance, ihre jeweiligen Wahlen zu gewinnen, egal wie gut sie sich innerparteilich durchsetzen konnten.
Man mag das alles bedauern. Ich würde es begrüßen, eine nachfrageorientiertere Wirtschaftspolitik zu sehen, mehr öffentliche Investitonen, eine bessere Lastenverteilung innerhalb der Gesellschaft. Nur sind weder Corbyn noch Sanders die Kandidaten, die sie bringen werden², genausowenig wie konservative Aktivisten von Leuten wie Donald Trump oder Ted Cruz eine Rückkehr zu dem Ideal der USA bekommen werden, das es so nie gab, das aber ihre Träume dominiert. Stattdessen werden am Ende diejenigen Kandidaten gewinnen, die über die Basis der eigenen Aktivisten hinaus Attraktivität besitzen. Selten genug ist das ein Willy Brandt oder ein Barack Obama. Häufig genug bekommt man dabei Bill Clinton oder Hans-Jochen Vogel. Das aber ist häufig eben doch besser als die Alternative, wie die Labour-Aktivisten zu ihrem Leidwesen 2020 erfahren werden.
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¹Technisch gesehen der erste Caucus-Staat, weil die erste primary in New Hampshire ist, aber den Unterschied schenken wir uns hier.
²Immer vorausgesetzt, dass es keinen dramatischen Wandel in den politischen Einstellungen der Mehrheit gibt, aber danach sieht es gerade nicht aus.


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