was das Tibetische Totenbuch wirklich ist.
Das Wissen um die Auflösungsprozesse beim Sterben ist jedoch schon länger bekannt, als das Karling-Zhitro darüber schreibt. Das findet sich schon in den verschiedenen Tantras, die eben auch mit diesem Wissen arbeiten. Mit Totenbüchern aus anderen Kulturen, wie dem ägyptischen Totenbuch, hat dieses Wissen nichts zu tun, weil eben im Buddhadharma und somit auch im Karling-Zhitro keine theistischen Ansätze verfolgt werden. Es ist kein Verzeichnis einer Seelenwanderung, da es keine Entität gibt, die einen Körper abstreift und einen anderen annehmen würde. Es ist einfach Geist, der Welt und Welterleben aufgrund von Gewohnheiten erschafft. Soweit einmal etwas zur Klärung.
Inhalt des Zyklus
Der Zyklus des Karling Zhitro von Karma Lingpa – eigentlich „Zhitro Gongpa Rangdrol” (die selbstbefreite Absicht der 100 Friedvollen und Zornvollen) genannt – ist eine umfangreiche Sammlung verschiedenster Texte des Pfades zur Erleuchtung und Befreiung. Dieser Band enthält die grundlegenden Übungen bestehend aus Vier Gedanken, die den Geist wandeln, Zuflucht, Bodhicitta, Bereinigung und Ansammlung und Guru-Yoga, sowie detailreiche Visualisationen des Mandalas der 100 Friedvollen und Zornvollen, ferner Gebete des Bekennens und der Abbitte, des Geleits von Verstorbenen, Anweisungen zum Anfertigen eines Amuletts usw. Der wesentliche Text darin ist aber die Einführung in die Natur des Geistes. Dieser Text sollte immer an erster Stelle studiert und dann über die anderen Praktiken wie Guru-Yoga und Mandala-Visualisation verwirklicht werden.
Sterben und Befreiung
Nachdem der äußere Auflösungsvorgang beendet ist, also sich das Element Luft in Raum aufgelöst hat, die Null-Linie eingetreten ist, beginnt die innere Auflösung. Diese hat wiederum drei Abschnitte. Beim ersten erfolgt ein Absinken des weißen Tropfens, des Vater-Tropfens und die sterbende Person nimmt ein strahlend weißes(!!!) Licht war und erlebt einen bisher ungekannten inneren Frieden, da sich die mit Hass verbundenen Emotionen auflösen. Dann nimmt die sterbende Person ein rotes Licht wahr, weil der Bindu der Mutter aus dem Nabelzentrum aufsteigt und erfährt ein Ende der Störgefühle, die mit Verlangen verbunden sind. Und schließlich treffen die beiden Tropfen im Herzzentrum aufeinander, lösen die Umschlingungen, d.h. die Herzkanäle werden frei und es ereignet sich ein nachtschwarzer Zustand der Ohnmacht. Dem folgt der Zustand des klaren(!!!) Lichts, also ein lichter Zustand, aber ohne jegliche Farbe. Soweit mal die Theorie.
Praxis im Alltag
Wenn man in der Meditation der Kanäle, Winde und Tropfen geübt ist, kann man diese Vorgänge bereits zu Lebzeiten trainieren und beim Sterben nachvollziehen. Aber auch simple Alltäglichkeiten ermöglichen einen Einblick in diese Abläufe.
Fangen wir also mal mit dem Einschlafen an. Wie schon oben beschrieben, läuft das jeden Abend ab. Man sinkt in sich zusammen und wenn man dabei in der Lage ist, den Fokus der Aufmerksamkeit – das Thigle (Bindu, punktloser Punkt, Tropfen) – zu beobachten, dann bemerkt man, wie dieser Bindu – ich verwende lieber dieses Wort – sich von seinem alltäglichen Aufenthaltsort im Scheitel verbunden mit der Außenorientierung nach und nach weiter in einer Art Zentralkanal nach unten bewegt. Normalerweise ist man im durchschnittlich trainierten Zustand bestenfalls in der Lage, dieses Absinken bis auf Höhe der Kehle bewusst wahrzunehmen. Auf Höhe der Kehle ereignet sich das als Alpha-Zustand bekannte Ding, wo man verschiedenste innere Bilder hat. Wenn der Bindu weiter sinkt, dann fällt man in den Schlaf und nimmt nix mehr wahr. Steigt der Bindu im Laufe der Nacht wieder etwas an, dann gibt es Träume.
Sterben und Einschlafen
Was das nun mit dem Sterbevorgang zu tun hat? Naja, dort läuft es ja ähnlich ab. Allerdings sinkt der Bindu nach unten, die Leute erleben weißes(!!!) Licht, fühlen einen nie gekannten Frieden usw. Wenn der Tropfen weiter – d.h. unterhalb der Kehle – absinkt, dann bleiben die Leute im Wachkoma, falls der Bindu der Mutter aus dem Nabelzentrum nicht aufsteigt. Die Stoffwechselprozesse finden daher weiter statt, aber da der weiße Vater-Tropfen jetzt weg ist, funktioniert es mit den Nerven nicht mehr brauchbar. Daher reagieren Menschen im Wachkoma nicht mehr sehr erfolgreich auf äußere Reize. Ok, soweit so… naja, nicht gut. Wenn jedoch eine Person „das Glück hat“, dass der Vater-Tropfen von der Kehle wieder aufsteigt, dann kehrt sie ins Leben zurück und die Sinne funktionieren (meist) wieder einwandfrei. Sie kann sich daher auch noch an die Erlebnisse erinnern. Klar, wir können unsere Träume ja auch meistens den anderen erzählen. Dieses weiße(!!!) Licht und der große Friede sind natürlich beeindruckend. Stelle man sich einmal vor, wie es sich anspürt, wenn im eigenen Geist das Wort „Hass“ nicht einmal bekannt ist, wenn diese ganze Anspannung und der damit verbundene Stress – wenn auch nur für einen Moment – weg ist. Dass das als „himmlische“ oder „göttliche“ Erfahrung geschildert wird, liegt auf der Hand.
Erleber und Geist
Geist = Erkennen
Geist ist Erkenntnis, ein Zustand des wissenden Gewahrseins, bar jeden Konzepts, bar jeder Information über etwas. Dieses klare, wissende Gewahrsein ist untrennbar von jeder Erfahrung, weil eben Erfahrung Erkennen ist. Dieses wissende Gewahrsein ist jedoch die meiste Zeit über von Phantasien, Vorstellungen und Konzepten verschleiert.
Gedanken sind „bewegter Geist“ und wenn sie nicht als leer von Eigennatur erkannt werden, dann sind sie einfach „gewöhnlicher Geist“ (tib., sems), also dualistisch. Gefühle sind auch nichts anderes als Gewahrsein, wenn sie nicht als leer erkannt werden, dann sind sie einfach „gewöhnlicher Geist“, und auch dualistisch, weil sie ja ständig auf Bezugnahme bedacht sind. Jede Sinneswahrnehmung ist nicht verschieden von Gewahrsein. In diesem Sinne ist ein Scheißstock einfach wissendes Gewahrseins, also Geist – und auch Erleuchtung. Wenn man also eine Klobürste sieht und dabei diese wissende Gewahrseinsqualität erkennt, dann realisiert man den erkennenden Aspekt des Gewahrseins. Wenn man zudem auch noch erkennt, dass da neben diesem Erkennen niemand existiert, der erkennt, sondern Erkennen sich erkennt, dann realisiert man den leeren Aspekt dieses wissenden Gewahrseins. Und wenn man die beiden Aspekte zusammenbringt, d.h. als nicht getrennt voneinander erkennt, dann realisiert man die Natur des Geistes.
Vom 17. – 22. Mai 2018 findet hier im Ngakpa-Zentrum die Übertragung des gesamten Zyklus der 100 Friedvollen & Zornvollen von Karma Lingpa statt. Zusätzlich wird auch das grundlegende Tantra für diese Meditation – das Guhyagarbha-Tantra – übertragen. >Mehr lesen.