Vom Satan besiegt: Ich benutze ein iPhone

Eigentlich bin ich kein religiöser Mensch, doch in den letzten sieben Jahren hatte ich Grund, glauben zu können, im Kampf gegen einen besonders perfiden Satan zu stehen und mich ihm doch erfolgreich zu widersetzen. Dieser Satan hatte meinen ärgsten Feind bei mir einziehen lassen und mich vor enorme Herausforderungen gestellt, doch ich habe mich immer gewehrt, bin den Verlockungen nie erlegen. – Oder doch? Waren da nicht leichte Veränderungen, ganz langsam? Vor zwei Monaten nun holte der satan zu seinem entscheidenden Schlag aus: Er kam selbst und besiegte mich.

Wenn man in den letzten Jahren die gesellschaftliche Entwicklung verfolgt, die Veränderung der Alltagskultur vor allem, dann fällt einem auf, dass die Welt ständig einen Zuwachs an Kommunikation erlebt, dass es immer mehr Kanäle gibt, auf denen man sich Nachrichten schicken, Informationen besorgen und der Unterhaltung frönen kann. Sitzt man in einem Zug, einem Restaurant, beim Frühstück mit Freunden, wird man ständig durch das geklingel und gepiepe von Mobiltelefonen unterbrochen. Wenn Menschen durch die Städte gehen, starren sie auf ihre Bildschirme, übersehen aber die Ampeln. Darum wird inzwischen erwogen, Ampeln so nahe am Boden anzubringen, dass man sie als handybewährter Fußgänger auch sehen kann. Dieser Wahnsinn führt zu einer unglaublichen Zunahme an Kommunikation, die auch viel besser überwacht werden kann als früher, aber sie führt eben nicht zu einem Zuwachs an gemeinsamem Erleben, eher im Gegenteil. Das Handy, denke ich oft, fördert die Vereinzelung und Vereinsamung der Menschen. Sie begegnen sich nicht mehr persönlich, unternehmen nicht mehr viel miteinander, sondern halten nur noch auf elektronischem wege irgendwo in ihrer gestressten Arbeitswelt notdürftigen Kontakt. Jeder schließt sich in der Festung seines sicheren Hauses ein, streckt aber millionen von elektronischen Fühlern aus, die ihn mit dem Lebensnerv der Leistungs- und Konsumgesellschaft verbinden. Und niemand kann sich dem entziehen.

Vor 6 1/2 Jahren musste ich mir notgedrungen ein Handy zulegen, weil es auf unserem Campingplatz in den Niederlanden plötzlich keine Telefonzelle mehr gab. Damals schrieb ich in dieses Blog: „Der Rubicon ist überschritten, die Würfel sind gefallen, und nichts wird je wieder so sein, wie es vorher war. Alle meine Freunde und Bekannten lachen mich aus, sie sagen, dass ich mich schnell daran gewöhnen und dann auch ständig SMS verschicken oder von überall her telefonieren werde. Ich aber sage euch: „Nein, nein und nochmals nein!!!“ … Nur 2 oder 3 Leute werden meine Handynummer erfahren, ich schalte es nur ein, wenn ich unterwegs bin und einen organisatorisch dringenden Anruf tätigen muss: Ein Taxi rufen, die Bahnhofsmission verständigen, eine große Verspätung bekanntgeben. Im Restaurant, beim Kabarett, bei Privatbesuchen hat das Handy nichts zu suchen. Und auch im Zug werde ich es außerhalb der von mir eben genannten Fälle in der Tasche halten, ausgeschaltet. Es nervt mich nämlich immer noch, und ich werde andere Menschen nicht mit meinem Handy nerven, das ich aus purer Notwendigkeit gekauft habe.“ Meine Freunde haben mir nicht geglaubt, aber ich habe sie überzeugt. Das Handy blieb für mich immer ein Fremdkörper, es war für mich immer nur ein notwendiger Gebrauchsgegenstand.

Gestern machten meine Liebste und ich eine lange Zugfahrt. Wir fuhren früh morgens nach Berlin, wo wir an der Beerdigung einer lieben Freundin teilnahmen, und noch am selben Abend fuhren wir zurück. Morgens um viertel vor fünf verließen wir das haus, nachts um viertel vor eins waren wir zurück. Während dieser langen Zugfahrt, es war noch vor 6 Uhr am 16. Januar 2018, zog ich plötzlich mein iPhone aus der Tasche und sprach eine What’sApp-Nachricht an meine engsten Freunde ein. 29 Nachrichten gingen während des gestrigen Tages hin und her, allerdings nur, wenn wir im Zug saßen. Trotzdem habe ich gestern eine Grenze überschritten, ich bin in die Fänge des absoluten Satans geraten, der mich binnen der letzten 6 Jahre ganz langsam korrumpierte.

Vor wenigen Wochen schon wies mich mein Lieblingsnazi, einer der fleißigsten leser dieses Blogs, auf meine mangelnde Glaubwürdigkeit hin. Ich würde mich über die Gesichtserkennung bei Facebook beschweren und gleichzeitig ein Amazon Echo dot und ein iPhone besitzen, verkündete er, und hatte damit völlig recht. Ich behaupte von mir auch gar nicht, moralisch unfehlbar zu sein, oder alles richtig zu machen. Ich glaube nicht, dass die Technik schlecht ist, sondern dass es darauf ankommt, was wir daraus machen. Und ich glaube, dass die Meisten aus dem iPhone und anderen Geräten nicht das gemacht haben, was man daraus machen sollte.

Kurz gesagt: Seit Mitte November besitze ich ein iPhone. Mit dem Gedanken hatte ich mich schon länger befasst, wiederum aus einer gefühlten Notwendigkeit heraus: Immer mehr Dienste im Netz sind für Mobilnutzung optimiert, es gibt Dienste wie z. B. Facebook, die über die Webseite nicht gut barrierefrei zu nutzen sind, über das Smartphone aber schon. Und es liegt doch an uns, ob wir mit dem iPhone echte Kommunikation ersetzen oder sie ergänzen. Für mich zumindest gilt weiterhin, was ich 2011 sagte: Das Handy und auch das Smartphone ist ein Nutzgegenstand, und sobald ich mit anderen Menschen zusammen bin, hat es Sendepause. Allerdings musste ich gestern feststellen, dass es sich im Zug ganz gut nutzen lässt. Ich habe zwar nicht alle drei Minuten irgendwelche Leute angerufen und gesagt: „Hallo, ich bin jetzt in Gießen“, oder „Friedberg“, oder „Halle“, sondern ich habe meinen engsten Freunden erzählt, was wir erlebten, welche Gedanken mir angesichts der Beerdigung durch den Kopf gingen. Ich habe nicht telefoniert, sondern Gedanken mitgeteilt und Gedanken erfahren. Das war langsam, freundlich und entspannend, es hat gut getan, es war Kommunikation im besten Sinne. Aber ich habe im Zug, wenn auch leise, gesprochen, und ich konnte nicht sicher sein, dass niemand Wortfetzen meiner Gedanken hören musste. Auch bei mir hat sich das Kommunikationsverhalten offenbar verändert.

Das iPhone kann für blinde Menschen eine Erleichterung sein: Es gibt navigationsprogramme, Apps, die einem die Umgebung beschreiben, Apps, die einen mit Menschen verbinden, die mal eben über die eingebaute Kamera eine Beschriftung lesen oder die Farbe eines Kleidungsstücks mitteilen. Es gibt die App zum Hören von Hörfilmen, also Kino- oder Fernsehfilmen mit Bildbeschreibung. All dies ist eine Erleichterung und ein Zuwachs an Lebensqualität. Das sind Dinge, die wirklich positiv sind. Allerdings nimmt man eine Menge negativer Nebenwirkungen in Kauf und muss sich dieser Nebenwirkungen bewusst sein: Das Smartphone ist ortbar, man kann überwacht werden, auch und gerade in What’sApp, man gibt bewusst einen Großteil seiner Privatsphäre auf. Wenn man das weiß, kann man einige Vorsichtsmaßnahmen treffen, aber die Tatsache bleibt, dass man Daten freiwillig und ohne Zögern verteilt, die man früher geschützt hätte. Gegen die Erhebung dieser Daten sind viele 1983 vor das Bundesverfassungsgericht gezogen und haben eine allzu neugierige Volkszählung verhindert und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erstritten. Wir selbst, die wir ein Smartphone nutzen, treten diese mühsam erkämpften Rechte mit Füßen. Mit diesem Widerspruch müssen wir leben.

Und auch meine gesellschaftliche Kritik am Handy oder Smartphone hat sich nicht geändert, obwohl ich mich jetzt täglich längere Zeit damit befasse. Ich werde nie all seine Möglichkeiten nutzen, und es steht auf „nicht stören“, sobald ich persönlich mit Menschen zusammen bin und mich mit ihnen unterhalte oder etwas unternehme. Ich sehe mit Sorge, dass es unser zwischenmenschliches Verhalten verändert, es ist eine Kulturrevolution. Es war richtig für mich, mich so lange wie möglich dagegen zu sperren und mir der negativen Aspekte immer bewusst zu bleiben. Aber es ist auch richtig, es in begrenztem Rahmen zu nutzen.

Als ich jung war, hat man sich noch Briefe geschrieben. In den Schulferien bin ich so, oder durch kurze Telefonate, in Kontakt mit meinen Freunden geblieben. Unter Blinden war auch der „Hörbrief“ verbreitet, also Briefe auf Kassette, die man einander schickte. Seit 1996 löste die E-Mail den Brief und den Hörbrief ab. Mit der Mail ging alles viel schneller, bekam man die Nachrichten praktisch sofort, und trotzdem behielt sie das Bedächtige des Briefes bei, dachten wir. Doch die Mails wurden mit der Zeit kürzer, hektischer, oberflächlicher. Man nahm sich einfach nicht mehr die Zeit, lange Mails zu schreiben. Vor zwei Monaten diskutierte ich mit meinen engsten Freunden, mit denen ich seit 20 Jahren eine Mailingliste habe, die früher viel frequentiert wurde, über die Frage, warum unsere Kommunikation so stark abgenommen hat. Die Jüngeren unter uns finden das Schreiben von Mails wohl zeitraubend und lästig, und die meisten Anderen müssen es in ihren vollen Alltag einbauen, haben kaum noch die Zeit, alles zu lesen und zu beantworten. Mit What’sApp, sagten sie, sei das anders, denn sie könnten jederzeit mal kurz eine Sprachnachricht schicken, auch Atmosphäre mitliefern, dafür böte sich immer wieder zeit. Ich war sehr skeptisch. War nicht gerade erst die alte, ehrwürdige und wunderbar langsame und ausgefeilte Tradition des Briefes durch die schnelle, oft oberflächliche Mail verdrängt worden, und würde ein kurzer Gruß über das iPhone nicht noch unpersönlicher, noch oberflächlicher sein? Wir entschlossen uns, es auszuprobieren, und ich wurde sehr überrascht. Zum ersten mal seit Jahren tauschen wir uns sehr intensiv über schwierige Themen aus: Religion, Organspende, Verfassungsschutz, das Gesundheitssystem anhand eines persönlichen Beispiels und viele andere Themenfelder wurden intensiv besprochen. Das hat gut getan, auch wenn man sich an andere Werkzeuge und Hilfsmittel gewöhnen muss. Bei einer Mail konnte ich immer noch mal drei Zeilen zurückspringen, mir einen Satz durch den Kopf gehen lassen, ihn kopieren und neu verwenden, bei What’sApp-nachrichten ist das nicht so einfach, man muss möglicherweise eine Nachricht vollständig noch einmal hören. Bis jetzt denke ich nicht, dass es Zeit spart, aber es ist überall nutzbar und erfordert kein Schreiben.

Die Art der Kommunikation verändert sich. Das kann man bedauern, aber man kann es kaum ändern. Der Brief stirbt aus. Wenn man in 100 Jahren einen Brief liest, einen alten Brief, wird man die Faszination fühlen, die Innigkeit und Bedeutungsschwere, die bei flüchtigen Mails und noch flüchtigeren What’sApps nicht mehr existiert. In 20 Jahren gibt es keine Geräte mehr, mit denen man diese Mails noch lesen oder diese What’sApps noch hören kann, auch wenn ihre elektronischen spuren im weltweiten Netz noch zu finden sein mögen. Unsere grundlegenden Kommunikationsformen verändern sich, und auch unser Verständnis von Privatheit und Öffentlichkeit. Wichtig ist hierbei ein verantwortungsvolles handeln, und das möchte ich selbst auch leisten. Es wird mir nicht vollständig gelingen, in einigen Punkten wird die Bequemlichkeit siegen, und in einigen Punkten hat sie schon gesiegt. Ich verschlüssele meine Mails nicht, weil es ohnehin wenige tun und weil es aufwendig ist. Damit gehe ich das Risiko ein, dass meine Mails gelesen, meine Nachrichten abgehört werden. Die Wahrscheinlichkeit ist zumindest höher als bei verschlüsselten Nachrichten, obwohl selbst das nicht sicher ist.

Der Satan hat mich besiegt, in einem gewissen Rahmen benutze ich das iPhone. Oft schalte ich es zwar auf stumm, aber es ist da, und für manche Dinge nutze ich es ganz bewusst. Doch ich werde es hoffentlich verantwortungsvoll nutzen und nicht zu den Leuten gehören, die sich nur noch mit ihrem Smartphone befassen, Menschen nur noch vom Bildschirm kennen und ohne ihren Assistenten nicht mal mehr wissen, wie das Wetter draußen ist, selbst wenn sie den Regen an ihre Scheibe klopfen hören.

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