Vom Reisen

Ich bin ein Kind des Ostens.

Reisen hiess damals, zumindest für die breite Masse, einen FDGB-Urlaubsplatz zu ergattern und in exotische Gefilde wie den Harz, die Ostsee oder die Mecklenburger Seenplatte zu reisen. Wenn man Glück hatte, dann ist man durch Partnerschulen, Schüleraustausch und den Freundschaftszug bis nach Ungarn und die UdSSR gekommen.

Eine grosse Reiseauswahl gab es nicht (obwohl mich jetzt Nicht-(Ost)deutsche darum beneiden, dass ich in den 80er Jahren und vor der Spaltung sämtlicher Republiken von der Sowjetunion in Moskau gewesen bin – vielen Dank Freundschaftszug!).

Dann kam der Umschwung und mit ihm massenweise Billigangebote für alle möglichen Reisen – vor allem nach Spanien und Italien. Die Welt öffnete sich, allerdings war ich nicht wirklich daran interessiert, mir 2 Wochen an der Costa Brava umgeben von meinen eigenen Landleuten die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen.

Aus dem Westteil Deutschland’s schwappten solche verführerischen Begriffe wie „Backpacken“, „Au-Pair in America“ und „Individualtourismus“ in’s kleine Thüringen.

Ich hab noch heute den Augenblick vor meinem inneren Auge, als ich das erste Mal einen Lonely Planet Reiseführer in den Händen hielt – dieser Augenblick eröffnete WELTEN und formte höchstwahrscheinlich den Rest meines Lebens. Ich konnte nicht glauben, was dort las!! 

  • Wie?? Man kann individuell die Welt bereisen???
  • Was?? Und diese Reisen müssen nicht die Welt kosten??
  • Echt?? Man kann irgendwo hinfahren und muss nicht mit seinen Landsleuten an einem überfüllten Strand sitzen??
  • Kann das sein?? Man kann länger als die obligatorischen 2 Wochen irgendwohin reisen und womöglich Monate unterwegs sein?? Und das alles ohne durch ein Reisebüro (teuer) vorgebucht zu haben??

Ich wollte und musste unbedingt an dieser Sache teilnehmen!!

Am Anfang bin ich auf viel Unverständnis gestossen. Hier ein paar Kommentare, die ich zu hören bekam, als ich meine Au-Pair Stelle in Dublin zugesagt bekam: „Und wie stellst Du Dir das vor?“ | Wie? Du nimmst jetzt mal eben ein Urlaubssemester und ziehst nach Irland, um englisch zu lernen?“ | „Und dann nimmst Du Unterwäsche für ein halbes Jahr mit?“ | „Du hast die Leute nie getroffen, bei denen Du wohnen wirst?“ | „Das hälst Du doch eh nicht durch.“

Meine Weltreise kam ein paar Jahre später – damals lebte ich in London und ich hatte etliche Leute getroffen, die schon einmal ein paar Monate Auszeit genommen hatten, um (meist in Südostasien) zu reisen. Den letzten Aufhänger lieferte ein Kollege, der im Hong Konger Büro meiner ersten Londoner Firma gearbeitet hat. Er ist Engländer und vor langen Jahren hat er sich auf den Weg nach Hong Kong gemacht. Über Land, mit wenig Geld und viel Zeit. Er hat sieben Monate gebraucht, ist durch Länder gereist, die auch heute (noch) nicht zu den traditionellen Urlaubszielen zählen (Usbekistan, Kasachstan usw.) und angekommen an seinem Ziel war er so pleite, dass er sich einen Job suchen musste, um Geld für die Rückreise zu verdienen. Zurückgereist ist er nie – er ist mittlerweile mit einer Chinesin verheiratet und hat ein Familie gegründet. Seine Geschichte faszinierte mich dermassen, dass ich mich fast Hals über Kopf in die Planung meines eigenen Abenteuers stürzte.

Noch mehr Unverständnis als bei meinem Aufbruch nach Dublin als Au Pair wurde mir entgegengebracht, als ich die Entscheidung getroffen hatte, meinen Job zu kündigen und ein ganzes Jahr um die Welt zu reisen: „Und dann willst Du monatelang am Strand sitzen?“ | „Wie geht denn das – Du hast dann ein ganzes Jahr lang keine feste Adresse?“ | „Und was ist mit Deinem Job? Den kannst Du doch nicht so einfach aufgeben?“ | „Das sind doch nur Flausen!“ | „Hast Du im Lotto gewonnen?“ | „Du spinnst.“ usw. usw.

Natürlich waren nicht alle meiner Bekannten negativ eingestellt – im Gegenteil – die meisten unterstützten mich, freuten sich mit mir und beneideten mich wohl auch ein bisschen.

Das war vor über 15 Jahren. Die Zeiten haben sich geändert und sowohl als Au Pair ein paar Monate ins Ausland zu gehen, als auch um die Welt zu reisen, ist nun auch in Ostdeutschland keine Besonderheit mehr. Und das ist gut so. Sogar den Lonely Planet gibt’s mittlerweile in deutscher Sprache.


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