“Junge Welt”, 16.11.2011
Italien: Kapitalisten und Uni-Seilschaften im Krisenkabinett. Industrie am Boden
Italiens Bevölkerung ist vom Regen in die Traufe gekommen. Nach dem Abgang des mafiösen Medienmoguls Berlusconi bekommen die Italiener mit Mario Monti nun einen EU-Technokraten vorgesetzt, der die anstehenden Austeritätsmaßnahmen möglichst schnell und effizient realisieren soll. Monti, vor kurzem noch Rektor der Bocconi-Wirtschaftsuniversität in Mailand, bekleidete über lange Jahre Spitzenpositionen in der EU-Bürokratie. So war er als Binnenmarktkommissar und als Wettbewerbskommissar tätig. Der neue Regierungschef will demokratisch gewählte Politiker an der Umsetzung des Spardiktats in Italien erst gar nicht beteiligen. Vielmehr besetzt Monti sein »Technokratenkabinett« mit Personal, das italienischen Kapitalkreisen und den Seilschaften seiner Universität entstammt.
Von Berlin erpreßt
Die anstehenden »Sparpakete« hat Italien nicht aus eigenem Antrieb entworfen. Sie wurden dem Land auf den letzten beiden EU-Krisengipfeln von Berlin und Paris aufgezwungen. Die neue kapital- und EU-hörige Regierung in Rom konnte das Ansteigen des Zinsniveaus aber nicht stoppen. Bei einer Auktion von fünfjährigen Staatsanleihen im Wert von drei Milliarden Euro mußte Italien am vergangenen Montag eine durchschnittliche Rendite von 6,29 Prozent akzeptieren. Das ist das höchste Zinsniveau für fünfjährige Anleihen, mit dem Italien seit der Euro-Einführung konfrontiert ist. Noch Mitte Oktober erreichte die Zinslast bei einer Versteigerung von Staatsanleihen nur 5,3 Prozent. Kritisch wird es im kommenden Jahr, wenn Schulden von insgesamt 300 Milliarden Euro fällig werden. Sollte das gegenwärtig hohe Zinsniveau nicht sinken, droht Rom der Finanzkollaps – und der Euro-Zone der Zerfall.
Die Regierung Monti will die kommenden Monate deshalb zur Haushaltssanierung nutzen. Dabei stellt das neueste, am vergangenen Samstag vom Parlament beschlossene Sparpaket nur einen ersten Schritt dar, um die rund 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) umfassende Staatsverschuldung und die ausartende Zinslast Italiens einzudämmen. Vor der jüngsten Maßnahme hatte die Regierung Berlusconi bereits seit Juli mehrere Austeritätspakete im Umfang von rund 100 Milliarden Euro durchs Parlament gepeitscht. Die Auswirkungen dieser Programme sind jetzt an den Einzelhandelsumsätzen ablesbar, die im August um 0,3 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum zurückgegangen sind.
Minus von 20 Prozent
Das Desaster in Italien wird durch eine Rezession komplettiert. Während die Industrieproduktion im September in der Euro-Zone gegenüber dem Vormonat um rund zwei Prozent zurückging, fiel sie in Italien sogar um 4,8 Prozent. Zum Vorjahr gerechnet, sank der Produktionsausstoß südlich der Alpen um 2,7 Prozent, in der gesamten Euro-Zone stieg er hingegen, und zwar um 2,2 Prozent. Im hochverschuldeten Italien konnte sich das verarbeitende Gewerbe in den vergangenen zwei Jahren nicht erholen. Der Absatz liegt immer noch rund 20 Prozent unter dem Vorkrisenniveau. Die einheimische Industrie ist auf den Stand von 1994 zurückgeworfen. Durch die rabiate Sparpolitik droht die drittgrößte Volkswirtschaft des Euro-Raums in eine deflationäre Abwärtsspirale zu geraten. Die hat Länder wie Griechenland bereits voll erfaßt.
Auch US-Ökonomen wie Paul Krugman oder Nouriel Roubini sehen die Euro-Zone unter dem gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Kurs mittelfristig vor dem Auseinanderbrechen. Schlimm würde das für Italien. Die Schuldenkrise könne bald einen »riesigen Ansturm auf die Banken« auslösen, bei dem die Kunden ihre Guthaben massenhaft abhöben, so Krugman. Auslöser wären die Angst vor einer Bankenpleite und die mögliche Rückkehr zur Lira. Das werde Notschließungen von Banken zur Folge haben. »Das klingt alles apokalyptisch und irreal. Aber wie sollte sich die Lage sonst entwickeln«, fragt Wirtschaftsexperte Krugman. Nach Italien werde die Schuldenkrise schließlich Frankreich erfassen.
Italien: »Dritte Welt«
Der Volkswirt sieht Italien oder auch Spanien durch den Euro auf den »Status von Dritte-Welt-Ländern« reduziert, die sich »in einer fremden Währung verschulden« müssen. Roubini und Krugman sind der Ansicht, daß nur noch umfassende Anleihekäufe seitens der Europäischen Zentralbank (EZB) den Zusammenbruch der Euro-Zone verhindern können. Als Beispiel nennen sie Großbritannien, das aufgrund einer sehr lockeren Geldpolitik eine niedrige Zinslast von etwas mehr als zwei Prozent habe, obwohl die Finanzlage in London kaum besser als in Madrid sei. Die Kehrseite dieser britischen expansiven Geldpolitik sei aber eine relativ hohe Inflationsrate, die im vergangenen September 5,2 Prozent erreicht hat.
Indes weigert sich Deutschland hartnäckig, eine europäische Geldpolitik zu betrieben, die sich stärker an den Interessen der Schuldnerländer orientiert. Bundesbankpräsident Jens Weidmann bekundete zu Wochenbeginn, es komme in Italien nur auf den »politischen Willen« an, einen »schmerzhaften Anpassungsprozeß« durchzusetzen. Der deutsche Druck auf die EZB, die Anleiheaufkäufe europäischer Schuldenstaaten einzustellen, zeigt erste Wirkung. Die EZB hat in der vergangenen Woche die Aufkäufe von Staatsanleihen auf ein Volumen von rund 4,5 Milliarden Euro gesenkt, nach 9,5 Milliarden in der Vorwoche.