Gidon Kremer (c) dc
Kurz vor Frühlingsbeginn standen große Gefühle am Programm des OPS, des Orchestre Philharmonique de Strasbourg. Mit der Aufführung des Stückes „in tempus praesens“ der russischen Ausnahmekomponistin Sofia Goubaidulina wurde ein Werk präsentiert, welches durchgehend beeindrucken konnte. Nicht unschuldig daran war der Solist, Gidon Kremer, der das von seiner Aussage her sehr persönlich empfundene Werk mit einer Perfektion interpretierte, die sich dennoch nie von einer intensiv ausgestrahlten Seelenwärme abkoppelte. Das Stück besticht durch eine ganz kleine, ansteigende Melodie, die sich immer wieder Bahn bricht, egal, wie raffiniert um sie herum das Tongeflecht gespannt wird. So schön wie bei der russischen Komponistin und vor allem so klar wurde selten die Violine als menschlicher Stellvertreter herausgearbeitet. Wie Kremer sie zum Klagen bringt, wie er all unser Sein damit hinterfragt, wie er darum ringt und auch kämpft, ist einzigartig. Sein klarer und dennoch immer samtiger Ton öffnet alle Sinne auch für zeitgenössische Musik, in deren Vermittlung er mit seinem Instrument ein wahrer Meister ist. Die musikalischen Beschreibungen, welche den Menschen als ein Wesen zwischen verschiedenen Stadien kennzeichnet, waren mehr als intuitiv nachvollziehbar. Das Spannungsfeld, in welchem wir uns zwischen den Welten bewegen, klar erkennbar. Gut und böse liegen bei Goubaidoulina eng beieinander, können aber in ihren Grenzen ganz genau wahrgenommen werden, Leben und Tod sind offenbar nichts anderes als unterschiedliche Zustände ein und derselben Seele. Der orchestralen Begleitung, bei der Geigen gänzlich ausgespart sind, jedoch durch massiven Bratscheneinsatz kompensiert werden, hielt Kremer bravourös stand. Und das nicht mit Kraft und Protzerei, nicht mit technischen Bravourgriffen, sondern schlicht und einfach durch sein so überaus menschliches Spiel. Wenn es hinter ihm noch so wogte und brauste, wenn sich Himmel und Hölle zu öffnen schienen war es immer dieses ganz bei-sich-Sein, von dem behauptet wird, dass es einen Menschen authentisch mache, das beeindruckte; war es immer dieser samtige und zugleich kristallene Ton, was an und für sich ein Paradoxon darstellt und in dieser Kombination nur von ganz wenigen Geigern beherrscht wird, der die menschliche Dramatik immer in den Vordergrund rückte. Eine beeindruckende Performance, mit der der Weltstar Gidon Kremer derzeit in Europa von einem großen Konzertsaal zum nächsten reist.
Besonders passend zeigte sich im Anschluss die Auswahl mit Gustav Mahlers 6. Symphonie. Vor allem auch, da Marc Albrecht wieder am Pult stand. Sein Einsatz über 70 Minuten war bewundernswert – und hat sich vor allem auch gelohnt. Seine Körpersprache war so beredt, dass man meinen konnte, diese Symphonie sei ihm auf den Leib geschrieben worden. Mahlers Werk, welches dieser selbst in tiefer Ergriffenheit dirigierte, ist nicht nur von tragischen Vorahnungen geprägt, wie es in Rezensionen immer wieder gebetsmühlenartig wiederholt wird. Albrechts Interpretation des ersten Satzes zeigte klar und deutlich, dass mannigfaltige Ideen sowie jede Menge Kraft und positive Energie in dem Stück vorhanden sind, in welchem sich das männliche und das weibliche Lebensprinzip von Beginn an so wundervoll verschränken. Vor allem im zweiten Satz dirigierte Marc Albrecht so transluzide und feinfühlig, dass man aufgrund dieser Farbigkeit, die er wie immer durch eine extrem rasch wechselnde Dynamik erreichte, schon fast von einem Spiel im Spiel sprechen konnte. Ähnlich auch der ätherische dritte Satz, in welchem das große Symphonieorchester und Albrecht kammermusikalische Qualitäten entwickeln konnte.
Während Mahler mit seiner akustischen Beschreibung das Menschliche auf eine Metaebene hebt, auf welcher Schicksale und Emotionen eine Allgemeingültigkeit erlangen, zitiert Goubaidulina vielmehr ein persönliches Einzelschicksal. Schön, dass dem Straßburger Publikum gerade diese Konzertkombination geboten wurde.