Vom Loslassen und anderen Zumutungen

Loslassen anderen Zumutungen

Das Leben hat mich loslassen gelehrt. Gnadenlos hat es darauf bestanden, dass in manchen entscheidenden Situationen Loslassen das einzig Richtige ist, geradezu eine Notwendigkeit, der mein kleiner Wille nur Trotz entgegensetzen konnte, aber keine schlagenden Argumente. Was für eine Lehre, die schmerzlich und immer wieder mein Leben heimsuchte! Alles begann mit der Puppe meiner Schwester, die ich haben wollte, aber nunmal die Puppe meiner Schwester war. Quengeln half nichts, Tränen halfen nichts, Drohungen schon gar nicht. Standhaft weigerte sich meine ältere Schwester, auch nur einen Zentimeter nachzugeben. Erschöpft und verzweifelt musste ich loslassen und eingestehen, dass nichts zu machen war. Das war wohl Lektion eins im Crash-Kurs «Wie lerne ich loslassen?» Gut möglich, dass es zuvor schon eine Lektion null gegeben hat. Doch erinnern kann ich mich nicht.

Später kamen weitere Lektionen hinzu, jede einzelne so schmerzhaft, als würde mir ein Dorn mit Widerhaken aus der Seele gerissen oder als wollte mich das Schicksal ein für alle Mal brechen: die Eltern, die mir wegsterben, die Geliebte, die mich verlässt, Lebenskräfte, die mich zunehmend im Stich lassen. Die Liste könnte fortgesetzt werden. Mein Leben war und ist ein einziger Lehrgang im Abschiednehmen, im mich Bescheiden – im Loslassen. Und die Königsdisziplin dieses Lehrgangs, das Sterben, steht ja erst noch bevor. Dann gilt es, alles loszulassen, was ich habe und was ich bin. Die reinste Zumutung!

Trotzdem bin ich nicht unglücklich geworden. Im Gegenteil: Der Lehrgang hat mir im Grunde ganz gut getan – zumindest im Rückblick gesehen. Ich bin um vieles erleichtert. Denn Loslassen ist alles andere als Resignieren. Loslassen fordert meine Zustimmung, meine Einsicht, oft genug meinen ganzen Willen. Zunächst sträubt sich jede Fasern meines Körpers, jede Regung meiner Seele. Wer lässt schon freiwillig los? Es tut echt weh. Doch wenn es gelingt – und die Lage ist nicht aussichtslos –, erlebt man es als Befreiung. Loslassen ist so gesehen ein therapeutischer Prozess zur Überwindung des Egos. Man übt ein Leben lang. Und niemand wird verschont. Doch mit jeder Lektion, die man hinter sich gebracht hat, bekommt man ein Stück Freiheit geschenkt. Loslassen ist ein emanzipatorischer Prozess. Ich befreie mich von der Knute meines Egos, meiner Wunschnatur und werde dadurch freier und weniger manipulierbar. Mein Ego verglüht, indem ich loslassen lerne.

Nicht zu vergessen die Liebe, die in ihrer edelsten Form ganz Loslassen ist, nichts als Loslassen. Denn was wir nicht loslassen können, weil wir es brauchen, weil wir es unbedingt brauchen, das können wir nicht lieben, so Erich Fromm in seiner «Kunst des Liebens». Echt lieben heisst loslassen können. Auch das hat mich mein Leben gelehrt. Gnadenlos hat es darauf bestanden, dass auch hier Loslassen das einzig Richtige ist.


Der Text ist ein erstes Mal im «Zeitpunkt» erschienen.

Bild: «Losgelassen» von Kai C. Schwarzer, CC-Lizenz via flickr


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