Vom Leben und Sterben in Texas

Vom Leben und Sterben in Texas

Eine seltsame Geschichte hat sich Countrymusiker Steve Earle da ausgedacht. In seinem Erstlingswerk I’ll Never Get Out Of This World Aliveverwebt er die Existenzen eines perspektiv- und arbeitslosen Arztes, einer längst verstorbenen Countrylegende, einer blutjungen Mexikanerin und nicht zuletzt seine eigene.

In weit hinter ihm liegenden, besseren Tagen war Doc ein angesehener Arzt. Er wurde in eine Medizinerfamilie hineingeboren, sein Weg schien geebnet. Doch für den Antihelden in Steve Earles Debütroman kam alles ganz anders. Der Verlust seiner Approbation stürzte den Mediziner in eine tiefe Krise. Fortan tingelte er durch die amerikanischen Provinzen von Louisana und Alabama, bis er im schäbigsten Ort landete, den man sich vorstellen kann: San Antonio in Texas. Die Stadt ist klein, dreckig und vergiftet durch Kriminalität. Drogengeschäfte, Schießereien und Prostitution sind an der Tagesordnung und sichern Doc seinen täglichen Lebensunterhalt.

Leibarzt für Huren, Zuhälter und Kriminelle

Seine «Praxis» ist ein Tisch im örtlichen Saloon. Jeder, der Hilfe braucht, weiß, dass er Doc hier Tag für Tag findet. Für ein paar Dollar versorgt der gebeutelte Arzt Stich- und Schussverletzungen all derer, die nicht zur Polizei gehen können. Er hilft jungen Prostituierten – die von ihren Zuhältern geschickt werden – durch illegale Abtreibungen, behandelt den Tripper der Freier und versorgt die am Rande der Existenz lebende Bevölkerung. Das wird meist dann notwendig, wenn mal wieder ein Fall von häuslicher Gewalt seine Spuren bei den Eheleuten hinterlassen hat.

All dies und seinen eigenen Fall vom anerkannten Mediziner zur gescheiterten Existenz hält Doc seit Jahren nur durch starken Drogenkonsum aus. Das Geld, das er im dreckigen Hinterzimmer des Saloons durch seine ärztliche Versorgung verdient, trägt er sogleich zu Manny, dem Dealer seines Vertrauens. Einen klaren Kopf, so meint Doc, bekommt er nur durch die tägliche Dosis Heroin. Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, plagen den Mann auch noch die Geister der Vergangenheit. Denn einst zählte der wohl berühmteste Countrysänger der Welt, Hank Williams, zu seinen Patienten. Doch der ist längst tot und begleitet Doc seitdem als Geist – meist dann, wenn er sich dem Rausch hingibt.

Als eines Tages die junge Prostituierte Graciela auf Docs «OP-Tisch» landet und an den Folgen einer Abtreibung fast stirbt, ändert sich sein Leben schlagartig. Er findet Gefallen an der jungen Frau, die neben ihm die einzige Person ist, die Hank ebenfalls sehen kann. Die Dinge, die nun passieren passen nicht so recht in Docs Weltbild und stellen sein eingefahrenes Leben gehörig auf den Kopf. Denn die schöne Mexikanerin hat eine Gabe, die nicht von dieser Welt zu sein scheint und eine Aufmerksamkeit in der Stadt erregt, die Doc gar nicht schmeckt. Und auch Hank, beziehungsweise dessen Geist, kommt mit der Anwesenheit der jungen Graciela nicht wirklich zurecht.

Eine Hommage an den großen Hank Williams

Der Autor Steve Earle ist heute einer der bekanntesten Countrymusiker der USA. Mit seinem ersten Roman über die gescheiterte Existenz des Arztes Doc und seinem ständigen Begleiter, dem Geist Hank Williams’, setzt er dem begnadeten Musiker und Vater der Countrymusik ein großes Denkmal. Denn nicht nur die Geschichte von Doc steht auf den 384 Seiten des Romans, sondern auch ein Stück echte Musikgeschichte. Musikgeschichte, die Hank Williams durch sein Schaffen selbst schrieb.

Earles Roman spielt Mitte der 1940er, Hank Williams ist tatsächlich seit fast zehn Jahren tot. Er starb auf dem Rücksitz seines Cadillac auf dem Weg zu einem Konzert. Der Künstler segnete das Zeitliche mit nur 29 Jahren. Schuld soll ein Herzinfarkt gewesen sein. Tatsache aber ist, dass er schwer morphium- und alkoholabhängig war. Psychische Probleme plagten den Sänger ebenfalls. Der Herzinfarkt kam also nicht von ungefähr. Hauptprotagonist Doc hingegen ist Mitte dreißig und in den letzten Jahren – zumindest im Roman – Williams Leibarzt gewesen. Aus diesem Grund fühlt er sich für dessen frühen Tod verantwortlich. Und das erklärt auch, warum der Geist Williams’ permanent in seinem Kopf herumspukt.

Immer wieder verquickt Earle in seinem Buch Realität und Fiktion miteinander. So ist das Buch auch als eine Auseinandersetzung Earles mit seinem eigenem Leben zu verstehen. Der Künstler wuchs selbst in San Antonio auf, dem Ort, in dem sich Doc mehr schlecht als recht durchs Leben schlägt. Auch er befand sich vor Jahren in einer ähnlich desaströsen Lage wie Doc und ist, wie Williams, seit über 30 Jahren ein Countrymusiker, der wegen seiner kritischen und politischen Texte aneckt. Darum hat Earle als Buchtitel nicht umsonst  den Namen eines legendären Williams-Songs gewählt – I’ll Never Get Out Of This World Alive. Der Roman muss also als Hommage an den verstorbenen Sänger verstanden werden. Doch der berühmte rote Faden des Romans ist der Tod als fester Bestandteil des Lebens.

Denn zeitgleich zum Buch entstand Earles neue Platte, die den gleichen Titel trägt und, ebenso wie die Charaktere seines Romans, geprägt ist vom plötzlichen Tod seines Vaters. Im Interview zum Roman sagt Earle: «Bei der Platte geht es um dasselbe wie im Buch. worum es in dem Buch wirklich geht – was aus meinem Herzen kommt – ist Sterblichkeit.»

Titel: I’ll Never Get Out Of This World Alive
Autor: Steve Earle
Verlag: Blessing
Seiten: 384
Preis: 19,95 Euro
Veröffentlichungstermin: bereits erschienen

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Steve Earle – Vom Leben und Sterben in Texas

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