Vom Italienisch lernen und vom Cremoneser Nebel

Von Momstagebuch

Die Poebene in dichtem Nebel

Die nächsten Wochen plätscherten so dahin. Italo war den ganzen Tag arbeiten - auch samstags. Und ich brachte Bianca morgens in den Kindergarten und hatte dann frei bis 17 Uhr. Im Haushalt konnte ich nicht viel tun, da war ich gleich fertig. Also ging ich viel spazieren. An der Piazza Roma gab es einen wunderschönen Park, da ging ich gerne hin.
Außerdem wollte ich schnellstmöglich italienisch lernen und ich entwickelte meine ganz eigene Art, dies zu tun: ich begann italienische Comics zu lesen. Die Bildchen zeigten mir um was es ging und in den Sprechblasen war ein einfach zu verstehender Text. Die Worte, die ich nicht kannte, schlug ich im Wörterbuch nach. Vielleicht etwas ungewöhnlich, aber äußerst effektiv. Durch das viele Lesen (einige Zeit später dann las ich keine Comics mehr, sondern italienische Zeitungen und Bücher) erlernte ich auch die geschriebene Sprache. Die Unterhaltungen mit Nicoletta halfen mir, die gesprochene Sprache bald besser zu verstehen und anzuwenden.
Die Cremoneser jedoch haben einen ganz eigenen Dialekt. Hochitalienisch erlernte ich relativ schnell. Ich kann es heute noch - nach 28 Jahren - recht gut. Den Cremoneser Dialekt jedoch habe ich nie richtig verstanden und dementsprechend auch nie gelernt.
Nicoletta war  ja Mailänderin und sie bemühte sich immer um ein lupenreines italienisch, wenn sie sich mit mir unterhielt. Heute noch bin ich ihr so dankbar für ihre Geduld und Mühe, die sie mit mir hatte. Sie gab nie auf. Irgendwie schaffte sie es immer, dass ich verstand, was sie von mir wollte. Und wenn sie unzählige Anläufe dafür nehmen musste, sie tat es so lange, bis ich sie verstand.
Mein Aufenthalt in Cremona war die beste Sprachenschule, die man sich wünschen kann. Meine Tochter ist ja Diplom-Übersetzerin u.a. auch in italienisch. Erst vor kurzem behauptete sie, dass ich in manchen Dingen diese Sprache besser beherrschen würde wie sie selbst, obwohl ich nie eine Schule dafür besucht habe und sie diese Sprache jahrelang studiert hat.
Italo arbeitete viel und war dementsprechend wenig zuhause. Sein Trinkverhalten änderte sich. Jedoch wurde es nicht besser, denn nun trank er anstatt Bier eben Wein. Bier war teuer in Italien und Wein günstiger. Das war der Grund. Es half nichts, dass seine Familie ihn nicht mehr zum Trinken verleitete und er auch seine Trinkkumpanen nicht mehr um sich herum hatte. Er war schon viel zu tief im Sumpf des Alkoholismus, er konnte es nicht mehr kontrollieren, die Sucht kontrollierte ihn. In der Anfangszeit in der Via Robolotti ließen seine Aggressionen jedoch wirklich nach. Er kam nie vor 20.30 Uhr von der Arbeit. Da war er dann todmüde, aß noch zu Abend und trank sein Pensum Wein, danach ging er zu Bett.
Der November neigte sich dem Ende zu. So einen November hatte ich noch nie erlebt. Das Cremoneser Klima ist ja sehr feucht und schwül im Sommer. Im Winter jedoch zeigt sich die Feuchtigkeit in unglaublich dickem Nebel, der alles fest im Griff hat. Es war als ob der dichte Nebel alles verschluckte, die Nachbarhäuser, die Menschen auf den Straßen, die Autos, die Landschaft, ja selbst die Geräusche der Stadt hörte man nur gedämpft. Manchmal empfand ich es auch als etwas unheimlich und bedrückend, wenn ich morgens die Fenster zum Lüften öffnete und beim Hinaussehen nichts als eine weiße Nebelwand sah.
Es gab aber auch wenige Tage, an denen die Luft glasklar war. Dann konnte man von bestimmten Punkten in Cremona aus bis nach Brescia zu den Alpenausläufern sehen.Das war ein wunderbares Panorama.
Es wurde Dezember und wir hatten immer noch keine Wohnung in Aussicht. Die wenigen Wohnungen, die in den Zeitungen inseriert waren, waren erstens sehr teuer und zweitens hatten wir als Ausländer kaum eine Chance. Es half auch nicht, dass Italo selbst Italiener war. Meist glaubte man es ihm gar nicht, da er ja sehr groß und muskulös war, dazu seine dunkelblonden Haare und die grünen Augen. Außerdem hatte er einen deutschen Akzent, wenn er italienisch sprach. Die meisten Leute fragten ihn zuallererst, ob er Deutscher wäre.
Weihnachten nahte. Das erste Weihnachten in der Fremde. Zum ersten Mal wurde mir so richtig wehmütig zumute. Heimweh hatte ich bereits seit Längerem immer wieder mal, aber bei dem Gedanken an Weihnachten wurde es ganz schlimm. Das erste Weihnachten ohne meine Eltern, ohne Familie und ohne Freunde. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, welchen Preis wir für unseren Neuanfang bezahlen mussten.
Gott sei Dank sagte sich ein befreundetes Pärchen aus Deutschland für die Feiertage zu Besuch an. So hatten wir die Aussicht, an Weihnachten nicht ganz alleine zu sein.
In Cremona werden an Weihnachten keine Geschenke verteilt. Am 13. Dezember feiert man die "Santa Lucia", eine Heilige der katholischen Kirche. Zu ihren Ehren bekommen die Kinder bereits an diesem Tag ihre Geschenke. Und so bekam auch Bianca ihre ersten Weihnachtsgeschenke bereits am 13. Dezember. Ich wollte aber auf das traditionelle deutsche Weihnachten mit Geschenken nicht verzichten. So kam es, dass sie zweimal innerhalb von 11 Tagen reich beschenkt wurde. Ich glaube, das war ihr nicht unrecht :-)
Für Interessierte habe ich hier noch einen kurzen Text über die Santa Lucia:

Weihnachten in Italien – Santa Lucia

Zum Gedenken an die frühchristliche heilige Lucia von Syrakus findet am 13. Dezember das Santa Lucia Fest statt.
Soweit man heute weiß, war Lucia von Syrakus eine römische Bürgerstochter, die sich aufgrund der Erscheinung der Heiligen Agathe von Catania zur Christin taufen ließ und ungeachtet ihrer Verlobung als Nonne leben wollte. Ihr Verlobter zeigte sie daraufhin an. Christen wurden unter dem römischen Kaiser Diokletian im dritten Jahrhundert nach Christi Geburt verfolgt.
Doch weder Richterspruch noch Folter konnten Lucia umstimmen. So soll ein Ochsengespann, das sie zu Tode schleifen sollte, sich nicht von der Stelle bewegt haben und auch 1.000 Männer sollen sie nicht haben wegziehen können. Zuletzt tötete man sie mit einem Schwerthieb.
Abseits der Mythen und Legenden, gilt es aufgrund einer Grabinschrift in der Katakombe von San Giovanni in Syrakus und der Erwähnung in alten Martyrologien als sicher, dass es sie gab.
In Italien gibt es viele christliche Kirchen, die ihr Heiligenbild darstellen. An Santa Lucia wird der “Torrone dei poveri” gebacken, eine Art Brei aus Erbsen und Zucker. Für die Kinder werden in der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember kleine Süßigkeiten und Geschenke auf die Fensterbank oder in den Schuh ggelegt. Auch außerhalb Italiens wird der 13. Dezember als Gedenktag an Santa Lucia geehrt, so gibt es das Luciafest in Schweden.
Lucia steht für Lux (das Licht) und so ist es nicht verwunderlich, dass der 13. Dezember früher auf die Wintersonnenwende fiel, also ab dann die Tage wieder länger wurden. Erst mit dem Gregorianischen Kalender verschob sich die Wintersonnenwende auf den 21. bzw. 22. Dezember.