Nichts ist mehr wie früher
Jules und seine Geschwister Marty und Liz sind grundverschieden, doch ein tragisches Ereignis prägt alle drei: Behütet aufgewachsen, haben sie als Kinder ihre Eltern durch einen Unfall verloren. Obwohl sie auf dasselbe Internat kommen, geht jeder seinen eigenen Weg, sie werden sich fremd und verlieren einander aus den Augen. Vor allem der einst so selbstbewusste Jules zieht sich immer mehr in seine Traumwelten zurück. Nur mit der geheimnisvollen Alva schließt er Freundschaft, doch erst Jahre später wird er begreifen, was sie ihm bedeutet – und was sie ihm immer verschwiegen hat. Als Erwachsener begegnet er Alva wieder. Es sieht so aus, als könnten sie die verlorene Zeit zurückgewinnen, doch dann holt sie die Vergangenheit wieder ein. (Quelle: Verlagsseite)
Von einem Tag auf den anderen die Eltern zu verlieren ist so ziemlich das Schlimmste, was Kindern passieren kann. Für Jules und seine beiden Geschwister kommt es noch schlimmer, sie fristen ihr Dasein von diesem Moment an in einem Internat. Und hier beginnt die Geschichte von Jules, dem Jüngsten der drei Geschwister. Benedict Wells lässt ihn die ganze Zeit in der Ich-Form erzählen und dadurch komme ich ihm ganz schön nah. Jules ist ein sehr sensibler und introvertierter Junge und genau so erzählt auch Benedict Wells. Es sind die leisen Töne, die sofort unter die Haut krabbeln und dort weiter kribbeln. Ich begleite Jules über viele Jahre, anfangen 1980. Da war die Welt noch in Ordnung und ich lerne die drei Geschwister in ihrer Unbeschwertheit kennen, die durch den Unfall der Eltern jäh beendet wird. Es folgt ein steiniger Weg, den jeder der drei auf seine ganz eigene Art versucht zu bewältigen. Und dann endet der erste Teil mit einem Satz, in dem so viel Wahrheit steckt:
„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ (S. 136)
Und das ist nur einer von sehr vielen wunderbaren Sätzen. Benedict Wells hat sich ganz schnell in mein Herz geschlichen mit seiner behutsamen Art, die Dinge beim Namen zu nennen. Und schon nach ein paar Seiten musste ich zum Stift greifen, um die ergreifenden Worte, die er immer wieder findet, festzuhalten.
Es gibt Bücher, die würde ich am liebsten in einem Rutsch durchlesen. Dazu gehört dieses definitiv nicht. Benedict Wells erzählt langsam, er erzählt mit Bedacht und ich muss immer wieder inne halten, um das Gelesene sacken zu lassen. Manchmal muss ich das Buch auch ganz beiseite legen. Aber das ist gut so. Ich bin von Natur aus sowieso kein Schnell-Leser, aber dieses Buch habe ich bewusst langsam gelesen und genossen.
Das Buch ist in zwei Teile gegliedert und selbst die einzelnen Kapitel sind mit tiefgründigen Überschriften übertitelt. Benedict Wells zelebriert Sprache ausgesprochen intensiv und hat mich damit mehr als beeindruckt.
„Wäre es wirklich besser, wenn es diese Welt überhaupt nicht gäbe? … Wir existieren alle auf millionenfach unterschiedliche Weisen, damit es kein Nichts gibt, und der Preis dafür ist nun mal der Tod.“ S. 156
Nach solchen Sätzen kann ich nicht einfach weiter lesen, da muss ich inne halten, nachdenken und die Emotionen auskosten. Deshalb ist dieses Buch ein besonderes Buch, das ich wohl noch ganz oft hervorholen werde.
Fazit: Benedict Wells hat mich tief berührt, mich zum Nachdenken angeregt und auch mir auf meinem Weg ein paar gute Ratschläge mitgegeben.
Der Autor:
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren. Im Alter von sechs Jahren begann seine Reise durch drei bayerische Internate. Nach dem Abitur 2003 zog er nach Berlin. Dort entschied er sich gegen ein Studium und widmete sich dem Schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vielbeachtetes Debüt ›Becks letzter Sommer‹ erschien 2008, wurde mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet und 2015 fürs Kino verfilmt. Sein dritter Roman ›Fast genial‹ stand monatelang auf der Bestsellerliste. Nach Jahren in Barcelona lebt Wells inzwischen wieder in Berlin. (Quelle: Verlagsseite)
„Vom Ende der Einsamkeit“ ist im Diogenes Verlag erschienen
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