Pro Volksentscheide
von Aaron Thieme
Ein Aufschrei ging durch Europa! Die Schweizer Bevölkerung maßt es sich an über die Zuwanderung in ihr Land zu entscheiden. Dabei weiß doch die Europäische Union viel besser was gut für die Schweiz und ihre Bürger ist als die Schweizer selbst. Der Beweis für die Gefahren der Volksentscheide war erbracht. War er das wirklich?
Direkte Demokratie ist immer die ehrlichste Demokratie
Vielerorts entdecken die Bürger auf kommunaler Ebene inzwischen die Macht eines Bürgerentscheids. In Berlin scheiterte das Volksbegehren für ein rekommunalisiertes Energienetz knapp am Quorum von 25% und nicht an der Zustimmung, die mit 83% eindeutig dafür ausfiel. Aber auch das ist das Wichtige an der Basisdemokratie: auch das Scheitern ist ein Ergebnis, dass man akzeptieren muss.
Im Süden der Republik liefen in Stuttgart tausende Demonstranten gegen die Tieferlegung ihres heißgeliebten Bahnhofs Sturm. Am Ende sprachen sich aber 58% gegen die schwäbischen Wutbürger aus: der S21-Protest war nicht mehrheitsfähig. Die Gesellschaft ließ sich nicht von der lauteren Minderheit in Geiselhaft nehmen.
Das muss immer der Anspruch einer Demokratie sein: Herrschen zum Wohle des Volkes. Das Wohl orientiert sich nun mal an der Mehrheit. Und wenn die überwiegend russische Bevölkerung der Halbinsel Krim sich nicht dem gewalttätigen Putsch vom Majdan unterordnen will und mit überwältigenden 96% für den russischen Nachbarn votiert, steht es keinem Land, Staatschef oder Medium zu diesen mehr als eindeutigen Beschluss der Bevölkerung in Frage zu stellen.
Die Grenzen kennen und einhalten
Also könnte man zukünftig jeden Bundestagsbeschluss basisdemokratisch abstimmen lassen? Weit gefehlt! Volksentscheide haben ihre Grenzen und dürfen auch aus diesen nicht ausbrechen. Wenn bspw. eine Entscheidung ansteht, wo eine Konsequenz die Diskriminierung oder Beschneidung der Rechte einer Minorität bedeuten würde, dann ist dort die Grenze gesetzt. Denn die eigene Freiheit geht immer nur so weit, wie sie die Freiheit anderer nicht einschränkt.
Aber wessen Freiheit wird gefährdet, wenn die Schweizer Bevölkerung die Zuwanderung einschränken will? Welche Grundrechte werden dabei beschnitten? Gibt es ein Recht auf lebenslangen Aufenthalt in der Alpenrepublik? Deutschlands Regierung verweigert zum Entsetzen der eigenen und syrischen Bevölkerung die Aufnahme von syrischen Flüchtlingen, deren Existenznot allgegenwärtig ist, und zeigt mit dem Finger auf die Eidgenossen. Mit welchem Recht? Jeder vierte „Schweizer“ ist eingewandert. Um in Deutschland so eine Ausländerquote zu erzielen, müssten 13 Millionen Syrer aufgenommen werden. Die Bundesregierung erlaubt es aktuell 10.000 Flüchtlingen.
Zurück zum Thema Volksbefragung: Selbstverständlich kann auch nicht bundesweit über jede Trassenführung einer Landstraße zwischen Senftenberg und Finsterwalde abgestimmt werden. Jeder Entscheid bedarf je nach Umfang (lokal, regional, bundesweit) der entsprechenden Unterstützerunterschriften aus der Bevölkerung – als Nachweis der Relevanz. Da jedes Referendum entsprechend öffentliche Gelder frisst und bürokratischen Aufwand bedeutet, dürfen die Schwellen für eine Umfrage nicht zu niedrig liegen.
Der Ilmkreis lebt es vor
Im Ilmkreis stimmten die Bürger nach mehrmonatiger Diskussion über die Kommunalisierung der eigenen Abfallwirtschaft ab – mit 70% war der Erfolg des Bürgerbegehrens eindeutig. Interessanterweise haben die drei Parteien, die sich dagegen aussprachen, im Kreistag eine Mehrheit von 57%. Doch CDU, FDP und Freie Wähler regierten mit ihren Ansichten lediglich im Interesse einer Minderheit. Das zeigt, dass mit Volksbegehren die Möglichkeit besteht häufiger als einmal pro Legislatur Einfluss auf die Politik zu nehmen und verschobene Mehrheiten in der Politiker-Etage gerade zu rücken.
Mehr Transparenz in der Politik
Also wer hat Angst vor dem Volkswillen? Das sind genau die, die lediglich die Interessen einer Minderheit vertreten und sich davor scheuen die eigene Meinung auf Konsensfähigkeit im Volk zu prüfen. Dazu fördert der Volksentscheid auch die Transparenz bei politischen Entscheidungen. Wenn das Volk abstimmt, müssen die Fakten auch öffentlich auf den Tisch und werden nicht mehr im nicht öffentlichen Teil der Stadtratssitzung oder im Hinterzimmer des Bundeskanzleramts ausdiskutiert.
Der Volksentscheid hat auf regionaler und Bundesebene Tücken. Aber er ist ein viel zu wichtiges politisches Instrument als das man es nicht probieren muss diese zu überwinden.
Contra Volksentscheide
von Benjamin Schaller
Ich finde, dass die Demokratie von allen bisher in der Geschichte der Menschheit vorgekommenen Staatsformen die Beste ist. Dennoch glaube ich nicht, dass es nichts besseres als die Demokratie gibt – eine bessere Alternative ist nur noch nicht erfunden wurden (und wird eventuell auch nie mehr erfunden werden).
Dennoch halte ich die Forderungen nach mehr direkter Demokratie nicht für prinzipiell gut, im Gegenteil. Volksentscheide mögen eine an sich sympathische Idee sein, in der Praxis allerdings halten sie Gefahren bereit. Dass die Entscheidung einer Mehrheit nicht zwingend in einer allgemein positiven Entwicklung mündet, müsste in Deutschland sowieso jedem bewusst sein, wo doch die NSDAP bei der Reichstagswahl 1933 satte 43,9 % der Stimmen erhielt. Natürlich ein drastisches Beispiel, aber in der Gesamtbetrachtung nicht unerheblich.
Blicken wir auf eine kleine (nicht repräsentative!) Auswahl tatsächlicher Volksentscheide in den letzten Jahren:
- Die bayerische Bevölkerung stimmte 2010 mit 60,86 % für den Nichtraucherschutz.
- Die Bevölkerung Baden-Württembergs stimmte mit 58,9 % für eine Landesfinanzierung des umstrittenen Projekts “Stuttgart 21″
- 52 % der Bürger Münchens stimmen gegen eine Bewerbung für die olympischen Winterspiele 2022
- 57,5 % der Schweizer Bevölkerung stimmte 2007 für ein Bauverbot von Minaretten
Manche dieser Entscheidungen fand ich persönlich gut, andere schlecht. Welche, spielt an dieser Stelle keine Rolle. Meine persönliche Meinung an sich ist mehr oder weniger irrelevant: Sie ist nicht der Maßstab, an dem gemessen werden sollte, ob eine Entscheidung gut oder schlecht ist. Genauso wenig finde ich, dass die Meinung einer Mehrheit ein solcher Maßstab sein sollte. Ob es einen solchen Maßstab überhaupt gibt, ist eine philosophische Grundfrage, die ich in diesem Text natürlich nicht beantworten kann.
Ich führe es daher auf meinen Verstand zurück, wenn ich behaupte, dass Mehrheitsmeinungen nicht generell die Blüte menschengemachter Entscheidungen darstellen. Oder wie es Benjamin Franklin (möglicherweise¹) formulierte:
Democracy is two wolves and a lamb voting on what to have for lunch.
Nun zu konkreteren Punkten, warum ich den Volksentscheiden kritisch gegenüber stehe: Volksentscheide bergen die Gefahr, in den politischen Parteien den Populismus noch weiter zu befeuern. Ein Großteil der Bevölkerung hat nicht die Zeit und das Interesse, sich tiefgründig mit den betreffenden Themen auseinanderzusetzen – gerade dann, wenn sie ihr Leben nur peripher tangieren (so stimmten in der Schweiz insbesondere in den Gegenden, in denen wenig bis keine Moscheen stehen, verhältnismäßig viele Menschen für das Minarettverbot).
Letztlich ist die Frage nach Volksentscheiden ja auch eine Frage der Macht. Die Macht des Einzelnen würde damit jedoch keinesfalls stärker oder schwächer ausfallen als in der parlamentarischen Demokratie. Dahingegen würde die Macht der Medien noch weiter bestärkt werden. Auch aus den Erfahrungen meines Medienwissenschaftsstudiums heraus sehe ich das zwar nicht grundsätzlich negativ, einige gewisse Kopfschmerzen wären jedoch unumgänglich.
Mein größtes Problem mit Volksentscheiden ist, dass man von einem problematischen System zum nächsten wechselt. Klar, Populismus gibt es auch heute schon. Die Wahl zwischen Macht der Medien und Macht der Lobbyisten ist (einzelfallabhängig) teils eine zwischen Pest und Cholera.
Wie, so hoffe ich, in meinem gesamten Statement herauszulesen ist, bin ich nicht pauschal gegen direkte Demokratie. Die Themenauswahl sollte jedoch äußerst sensibel erfolgen. Dass gerade Minderheiten besonderen Schutz genießen (sollten), schätze ich als eine Errungenschaft der heutigen Gesellschaft ein. Grundsätzlich kann man es weder mit Entscheidungen aus parlamentarischer noch direkter Demokratie allen Recht machen. Daher sollte der Fokus darauf liegen, kein unzumutbares Unrecht anzurichten.
Was dabei zumutbar ist und was nicht, ist jedoch wieder eine ganz andere Frage…
¹Dieses Zitat wird Franklin zugeschrieben, aber eine genaue Quelle findet sich offenbar nicht. Ich verwende dieses Zitat an dieser Stelle trotzdem, da ich es – unabhängig von der Quelle – für treffend halte. Zum Thema zitieren im Internet halte ich mich ansonsten an Abraham Lincoln, der einst sagte:
“The problem with internet quotes is that you cant always depend on their accuracy” -Abraham Lincoln, 1864
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