Volk ohne Vertretung

Der Titel stammt von mir, ist aber leider nur eine "Zweiterfindung".
Vor mir hat ihn schon der Bild-Redakteur Dr. Nicolaus Fest verwendet, in einer BILD-Kolumne vom 09.02.2011 u. d. T. "Wahlkampf: Volk ohne Vertretung". Konkreter Anlass war seinerzeit der Wahlkampf in Hamburg, tatsächlich ging es dem Kommentator aber um die Bundespolitik, wo er genau die gleichen Felder ansprach, die auch mich umtreiben:

  • Dominanz der Finanzwirtschaft: "..... der gleichsam erpresserische Zugriff der Banken auf die Staatsfinanzen. Hier aufzuräumen und die Banker in Haftung zu nehmen, würde der Politik viel Respekt verschaffen."
  • Eurozonen-Bailoutismus: "..... nimmt irgendeine Partei die verbreitete Skepsis auf, versteht sich irgendeine Seite als Vertreter einer Bevölkerung, die weder für die Betrüger aus Griechenland, die Spekulanten aus Irland noch für die mafiöse Korruption in Italien die Rechnung zahlen möchte? Nicht eine Partei entwickelt eine Exit-Strategie, nicht eine Partei verleiht dem Volk Stimme. Stattdessen werfen SPD und Grüne der Union vor, nicht noch mehr Geld für Bürgschaften bereitgestellt zu haben. Das sei im Interesse der armen Menschen in Südeuropa. Nach den Interessen des deutschen Steuerzahlers und kommender Generationen, die ungefragt für Milliardenkredite bürgen müssen, fragt niemand.
  • Identitätsdebatte: "Drittes Thema: Die gescheiterte Integration - das Buch von Thilo Sarrazin hat es gezeigt. Aber auch hier: Nichts! Keine Partei nimmt sich des Themas an, von keinem Kandidaten kommen irgendwelche Vorschläge, sei es die Koppelung von Hartz-IV an Deutschkurse oder des Kindergeldes an den Schulbesuch. Auch das vorbildliche kanadische Einwanderungsrecht findet bei deutschen Parteien keine Unterstützer. Und obwohl schon seit Jahren beklagt, wird immer noch Kindergeld an Eltern gezahlt, deren Kinder im Gefängnis sitzen. Nicht mal diesen skandalösen Unsinn wollen die Parteien im Wahlkampf aufgreifen.
  • Jugendkriminalität: "Das Problem sind in diesem Bereich vor allem die Gerichte, die selbst bei schwerkriminellen Intensivtätern immer wieder vor harten Strafen zurückschrecken. Sogar die linksliberale ZEIT widmet dem Missstand von Justizmilde und Betreuungsversagen den Leitartikel einer ihrer letzten Ausgaben. Ein Strafautomatismus wie in den USA, der beispielsweise nach der dritten Straftat mit Gewalt oder Waffen zwingend drastische Mindesthaftstrafen vorschreibt, würde rasch helfen. Aber keine Partei greift dies auf."


Nun habe ich zwar nicht die Überschrift von Dr. Fest übernommen (sondern nur den gleichen Titel aus eigener Überlegung verwendet), wohl aber die Inhalte. Er hat sie so präzise formuliert, dass ich mir eigene Verschlimmbesserungen ersparen kann.
Wenn ich auch insoweit von meiner ursprünglichen Konzeption für diesen Eintrag abgewichen bin, bleibt ein wesentlicher weiterer Aspekt noch übrig: die Frage, warum wir nicht auf die Barrikaden gehen.
Um das zu verstehen, kam mir der Spiegel-Essay "Blindflug durch die Welt. Die Finanzkrise als Epochenwandel" von Harald Welzer (29.12.2008) in den Sinn:
"Dass kaum auffällt, wie radikal sich die Lebenswelt und die zu ihr gehörenden Normen und Selbstverständlichkeiten verändern, liegt auch daran, dass die fühlbaren Veränderungen nur einen Teil, oft einen verschwindend geringen, der gelebten Wirklichkeit betreffen. Es wird chronisch unterschätzt, wie viel die Routinen des Alltags, die gewohnten Abläufe, das Weiterbestehen von Institutionen, Medien, Versorgung dazu beitragen, dass man glaubt, eigentlich würde gar nichts weiter geschehen: Busse fahren, Flugzeuge fliegen, Autos stehen im Feierabendstau, die Geschäfte dekorieren weihnachtlich. ..... All das bezeugt Normalität und stützt die tiefe Überzeugung, dass alles beim Alten ist.
In dem Augenblick, in dem Geschichte stattfindet, erleben Menschen Gegenwart. Soziale Katastrophen passieren im Unterschied zu Hurrikans und Erdbeben nicht abrupt, sondern sind ein für die begleitende Wahrnehmung nahezu unsichtbarer Prozess, der erst durch Begriffe wie "Kollaps" oder "Zivilisationsbruch" nachträglich auf ein eruptives Ereignis verdichtet wird. Fragen, warum nicht gesehen wurde, dass eine Entwicklung auf die Katastrophe zusteuerte, stellen Historiker in dem Wissen darum, wie die Sache ausgegangen ist. Sie blicken vom Ende einer Geschichte auf ihren Beginn und erzählen als Retro-Prognostiker, wie es zu diesem oder jenem Ergebnis kam, gar kommen musste.
Mit Prognosen ..... ist es etwas schwieriger. Bekanntlich wächst mit dem Wissen auch das Nichtwissen an ..... . Die sich gegenwärtig addierenden Krisen - Klima und Umwelt, Energie, Ressourcen und Finanzen - machen ..... deutlich, dass wir es an vielen Fronten mit einem uferlos gewordenen Nichtwissen über die Konsequenzen unseres Handelns zu tun haben .Deutet das Fehlen jeder Expertise womöglich an, dass wir uns bereits an einem systemischen "tipping point" befinden, von dem ab Entwicklungen nicht mehr korrigierbar sind? ..... Stabilitätserwartungen an Systeme sind nicht schon dadurch gerechtfertigt, dass es ein paar Jahrzehnte gutgegangen ist. Das 20. Jahrhundert hat eindringlich vorgeführt, dass wir jederzeit mit extrem beschleunigten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen zu rechnen haben. Und dass diese nicht immer gut ausgehen.
Welzer geht es (obwohl er auch die Staatsverschuldung erwähnt) in erster Linie um die Frage, warum wir nicht mehr gegen den Klimawandel und die drohende Energie- und Rohstoffverknappung unternehmen. Historisch entwickelt hat er seine Überlegungen allerdings anhand der Nazizeit: warum haben die Leute das Unheil damals nicht sofort erkannt?Und diese Fragestellung, sowie Welzers Erklärung dafür, lässt sich mutatis mutandis problemlos auf das gegenwärtige Unheil des Eurozonen-Bailoutismus übertragen.
Sie können mir jetzt natürlich sagen, dass ich auch den zweiten Teil meines Blotts nur abgeschrieben habe.Aber deswegen muss der Inhalt ja nicht unzutreffend sein. Und lieber abschreiben, was ein anderer erkannt hat, als etwas zusammenphantasieren, was irrelevant oder realitätsfern ist.
Das Wichtigste an diesem Blott ist ohnehin der Titel: den kann man nicht oft genug wiederholen und sich nicht tief genug einprägen: bis wir endlich aufwachen, aufstehen, die pro-Forma-Volksvertreter verjagen und Menschen an deren Stelle setzen, die uns wirklich vertreten.Doch leider sehe ich keine wählbare Partei oder Bewegung, wo solche Menschen sich glaubwürdig organisiert hätten.
Wir sind eine Herde von Schafen mit unguten Hirten.


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