„Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben“
Über das Leben meines Vaters vor meiner Geburt (bei der er 43 Jahre alt war) hatte ich bereits im 2. Teil berichtet.
Aufgewachsen war er im Bielefelder Ortsteil Schildesche, mit 6 Geschwistern, bei denen die Eltern Mühe hatten, die Kinder durchzubringen. Das Zitat in der Überschrift entstammt einem Lied, dass mein Vater 1939 anlässlich der 1000-Jahr-Feier der Gemeinde (heute Ortsteil von Bielefeld) auf Plattdeutsch über seine Jugendzeit gedichtet und komponiert hatte und das ich ebenfalls im 2 Teil eingestellt habe.Nachdem ich mich im 3. Teil der Verwandten mütterlicherseits erinnert habe, folgt hier nun die Verwandtschaft meiner Vaterseite, untermischt mit einigen anderen Kindheitserinnerungen.
Krustenkandis und Margarinefigürchen
Vaters Schwester Tante Klara war die Frau von Wilhelm ("Willi") Linnemann und wohnte in der Bleichstraße. Sie war kinderlos und hatte wohl kein gutes Leben mit ihrem Ehemann; die Verwandten haben sie jedenfalls immer bedauert, wenn sie über sie sprachen. „Onkel Willi“ war selbständiger Herrenschneider (mein Vater ließ sich einmal einen Anzug bei ihm machen; vielleicht hat er sogar auch für mich mal was genäht) und ansonsten im doppelten Wortsinne „ein Lipper“. Das heißt, er kam aus dem einstigen Fürstentum Lippe-Detmold und war extrem sparsam, vulgo geizig. (Vielleicht hat er aber auch einfach nur wenig verdient und sich geschämt, das zuzugeben? Ein "verschämter Armer", sozusagen?)
Auch Onkel Willy hütete eine Schatzsammlung: Er war in den 20er und 30er Jahren durch Deutschland gereist und hatte Stadtpläne und Touristenbroschüren aufbewahrt; einmal hat er sie mir gezeigt. Es hat ihm wohl weh getan, dass er nicht mehr umherreisen konnte.
Seltsam: Während ich über ihn schreibe, kommt mir schemenhaft sein Gesicht wieder vor Augen. Etwas eckig, runde Backen, leichte Knollennase, meist (verschmitzt? unangenehm?) lächelnd. In seinem Schneideratelier stand ein abgewetzter Lesersessel, eigentlich ein "Heiligtum," in dem ich jedoch dann und wann sitzen durfte.Eine unschöne Erinnerung habe ich in diesem Zusammenhang allerdings auch, und die ist unauslöschlich. Das hat freilich weder mit Tante Klara noch mit Onkel Willy zu tun; wohl aber mit dem Haus, in welchem die wohnten.Beim Spielen mit anderen Kindern im Hof bin ich mit dem linken Knie auf einen irgendwie hervorstehenden Gullideckel gefallen. Das hat furchtbar geblutet und geschmerzt, und die Narbe davon (die mich freilich jetzt nicht weiter stört) ist mir bis heute „erhalten geblieben“.Da fällt mir noch ein: Irgendwo in jener Gegend gab es in jener Zeit einen „Lumpensammler“ bzw. Alteisenhändler. Gelegentlich habe ich Metall dort hingebracht und bekam auch Geld dafür.Überhaupt fuhren die Lumpensammler in den frühen Nachkriegsjahren noch durch die Stadt, hielten hier und dort an, signalisierten ihre Anwesenheit mit einer Glocke und riefen „Lumpen, Alteisen, Papier: Ausgeschlagene Zähne, die sammeln wir!“ (Wobei die „ausgeschlagenen Zähne“ natürlich eine parodistische Ergänzung von uns Kindern waren.)SommeräpfelTante Guste [eigentlich wohl: Augusta oder Auguste] wohnte mit ihren Kindern (und Ehemann; von dem haftet mir aber nur noch eine schattenhafte Spur im Gedächtnis) in einem kleinen Häuschen mit Garten am (oder im?) Wellensiek. (Auch so ein seltsamer Name, genau wie „Ubbedissen“.)Schmackhaft waren die Klaräpfel, die man im Sommer von den Apfelbäumen in ihrem Garten pflücken durfte. Ich war halt schon damals ein kleiner Hedonist. Auch ihr gütig lächelndes Gesicht hat sich mir eingeprägt; mit einem Hautgewächs am Auge.Insgesamt war es dort draußen schön ruhig und ländlich, während bei uns in der Oelmühlenstr. nicht nur Autos (und in den ersten Nachkriegsjahren sogar noch Pferdefuhrwerke) Lärm machten, sondern vor allem die Straßenbahn.Dieses Foto, wohl mit ihren Töchtern und Enkelin (Gabriele? Erinnere mich nur vage) ist vermutlich nicht lange vor ihrem Lebensende entstanden:In meiner frühesten Kindheit gab es sogar noch einen Milchladen (in der Ravensberger Straße zwischen Mittel- und August-Bebel-Straße). Dort wurde die Milch "lose" verkauft, d. h. in die mitgebrachte Milchkanne reingepumpt. (Später sahen wir diese Milchkannen - manche emailliert, manche aus Aluminium - häufig auf Flohmärkten.)
Die Drogerie Kisker (August-Bebel-Str. Nr. 159/Ecke Ravensberger Str.) existiert gleichfalls längst nicht mehr. (Vielleicht wurden sogar die damaligen Häuser mittlerweile abgerissen und das Gelände neu bebaut; jedenfalls habe ich die Bebauung kleinteiliger in Erinnerung, als die OSM-Karte sie jetzt ausweist.)
Eingegangen sind, wie ich bereits oben erwähnte, auch die Zigarettenmarken, die ich für meinen Vater holen musste. Der Tabakwarenladen befand sich an der Ecke Oelmühlenstr./August-Bebel-Str. (Nr. 165). Heute serviert dort das Restaurant „VIP Damaskus“ exotische Speisen.Ungefähr im (heutigen) Haus Nr. 163 August-Bebel-Straße wurden für einige Zeit nach dem Kriege Backwaren verkauft. „Bäckerei Unger“ hieß der Laden, wobei ich aber nicht mehr weiß, ob das wirklich eine Bäckerei war oder lediglich die Verkaufsfiliale einer solchen. Dort kaufen wir immer das „Brinkmann-Brot“. Außer der Namensidentität hatte das nichts mit uns zu tun hatte. Es schmeckte aber, besonders in frischem Zustand, ausgezeichnet. So etwas habe ich später nirgends mehr bekommen und trauere ihm heute noch nach. Es war wohl vom Typ „Paderborner Landbrot“.Wenn ich dort als Kind einkaufte, bekam ich oft ein abgeschnittenes Stück Kruste vom Platenkuchen (Butterkuchen, Zuckerkuchen) geschenkt. Gelegentlich kauften wir diesen Kuchen auch. Bei dessen Wikipedia-Beschreibung läuft mir noch heute das Wasser im Munde zusammen: „Auf dem Teig bilden die Butterflocken nach dem Backen die typischen Kuhlen“ (und ergeben zuckrige Butterklumpen oder buttrige Zuckerklumpen).Eine Köstlichkeit aus der Kindheit war auch der gekochte (Hinter-)Schinken aus der Metzgerei Schulte, ungefähr Oelmühlenstr. 4 (Areal heute neu bebaut?); später ungefähr August-Bebel-Str. 120. (Die ganzen Angaben rekonstruiere ich hier nach meiner Erinnerung und dem OSM-Stadtplan.) Diesen Schinken leisteten wir uns an Festtagen; regelmäßig konnten wir das nicht. Er war stets frisch, mild gesalzen und kam in großen, viereckigen Scheiben. Ein breiter Rand Speck war auch dran, das gehörte einfach dazu. Auch einen solchen gekochten Schinken habe ich später nirgends mehr gefunden.In der Oelmühlenstr. Nr. 3 (oder 5) bestand ein Laden für Malereibedarf; dort deckten wir uns ein, wenn die Wohnung zu renovieren war. (Baumärkte kann man damals noch nicht.)EIN Unternehmen jedoch, das mir aus Kindertagen vertraut ist, hat die Zeitläufte bis heute überdauert – und sieht von außen noch genauso aus wie damals: Deppe Bestattungen. Die haben auch meine Großmutter und meine Eltern beerdigt. Ich bin weggezogen und damit denen gewissermaßen von der Schippe gesprungen; indes wird irgendjemand dereinst auch mich verschaufeln ….. Auf jeden Fall ist das ein krisenfestes Gewerbe, bei dem sich auch kaum etwas geändert hat. Außer den Friedhofsgebühren: Die haben die Stadträte – vermutlich nicht nur in Bielefeld – immer höher geschraubt. Ach ja: Und das Sterbegeld, früher von den Krankenkassen bezahlt, wurde abgeschafft. Ist ja nur logisch: Wenn das Land immer reicher wird, braucht keiner mehr Sozialleistungen. Oder so.Nick Knatterton; 42 Tropfen Lötzinn; SegenNun bin ich aber komplett aus der Spur geraten, denn eigentlich wollte ich von Tante Tilla (Mathilde?), einer weiteren Schwester meines Vaters und ihrem ehemann „Onkel Heini“ (Heinrich? Weber) berichten. Die wohnten in der Nähe von Tante Klara, in der parallel zu Bleichstraße verlaufenden Petristraße.
Auch an die Lektüre von Fortsetzungsromanen erinnere ich mich. Das war natürlich etwas frustrierend, weil ich die Folgen ja nicht vollständig lesen konnte. Meine, dass Theodor Pliviers Stalingrad-Roman darunter war.Vor ihrem Tode, schon auf dem Krankenbett, haben meine Frau und ich Tante Tilla noch einmal besucht. Dabei segnete Sie uns. Und dieser Segen hat, sogar bei einem Agnostiker wie mir, bis heute gehalten.
ceterum censeo
Wer alle Immiggressoren der Welt in sein Land lässt, der ist nicht "weltoffen":
Der hat den A.... offen!
Textstand vom 30.08.2019