✰ Viola di Grado – Siebzig Acryl, dreißig Wolle

Von Claudiamarina

Selten habe ich so eine Antipathie für eine Protagonistin empfunden wie für Camelia. Dabei müsste ich doch eigentlich Mitleid mit ihr empfinden. Rein menschlich gesehen. Seit dem Unfalltod ihres Vaters muss Camelia sich um ihre Mutter kümmern, die in Depressionen versinkt und nach und nach aufgehört hat, am Leben teilzunehmen. Sie schweigt. Kein einziges Wort kommt mehr über ihre Lippen. Für Camelia, die kurz davor war, sich ein eigenes Leben aufzubauen, eine eigene Wohnung zu beziehen, muss das einem Alptraum nahekommen. Alles hat sie aufgegeben für ihre Mutter, einst berühmte Flötistin und jetzt nur noch ein Schatten ihrer selbst, deren einzige Beschäftigung darin liegt, mit einer Polaroidkamera Löcher zu fotografieren.

Eines Tages findet Camelia in einem Müllcontainer Kleider, die so zerschnitten und falsch genäht sind, dass sie niemand tragen will. Die genauso kaputt und hässlich sind wie Leeds, die Stadt in der Camelia lebt. Die Jimmy genäht hat, Wens Bruder, den Camelia kennenlernt, der ihr Chinesisch beibringt und in den sie sich verliebt. Für den es sich lohnen würde, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen, die Initiative zu ergreifen und das Schweigen zu durchbrechen. Aber will sie das wirklich oder ist es nicht auch so ganz schön, trotz aller Hässlichkeit, so wie sie sich mit ihrer Mutter eingerichtet hat?

Undankbar. Das ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommt beim Lesen. Camelia ist ein undankbares und verzogenes Gör. Klingt hart, vor allem wenn man damit jemanden beschreibt, der doch schon in der Gosse lebt. Doch für mich lebt Camelia nur dem Anschein nach in der Gosse. Sie mag ihr Leben zwar hässlich und trostlos finden, doch warum suhlt sie sich noch zusätzlich in dieser Hässlichkeit? Warum trägt sie nicht nur die zerschnittenen Kleider aus dem Müllcontainer sondern zerstückelt auch nach und nach ihre gesamte Garderobe? Was will sie damit mitteilen, schaut her, wie zerstückelt mein Leben ist, will sie mir das sagen? Nein, diese Nachricht kommt bei mir nicht an.

Warum, warum, warum – dieses Buch steckt für mich voller Warums – und alle beziehen sich darauf, dass ich Camelias Verhalten nicht nachvollziehen kann. Tausend Fragen wirbeln durch meinen Kopf, und jede beginnt mit einem Warum.

Doch auch wenn ich die Protagonistin auf den Tod nicht ausstehen kann, erreicht Viola di Grado genau das, was viele Schriftsteller nie erreichen werden. Sie berührt mich, sie weckt Emotionen in mir – und zwar die allerkrassesten. Unverständnis, Abneigung – sogar Hass; all das spüre ich beim Lesen. Siebzig Acryl, dreißig Wolle ist das unglaubliche Debüt einer jungen Frau – gerade mal Anfang 20 – das beweist, dass Literatur immer dann am besten ist, wenn sie berührt, wenn sie Gefühle weckt – egal ob positive oder negative.



Broschiert: 256 Seiten, erschienen bei Luchterhand Literaturverlag, Juni 2012. Aus dem Italienischen von Judith Schwaab, Originaltitel: Settanta acrilico trenta lana

ISBN: 978-3630873879