Der letzte Tag in Buenos Aires, Argentinien, Südamerika, die letzten Stunden einer Reise, die für andere gerade beginnt – lange war ich derjenige, der geblieben, der weitergegangen ist. Ein letzter Tag ist immer anders. Er birgt keine Erwartungen mehr, man vergibt, verzeiht, man fragt niemandem mehr nach seinem Namen, seiner Lieblingsfarbe. Ich schmunzle oft, weil mich die anderen an mich erinnern, wie ich angefangen habe.
Wir versuchen nicht daran zu denken, gehen zu müssen, freuen uns über jede Sekunde, aber gleichzeitig müssen wir die Uhr im Blick haben. Und wir beide wissen voneinander, dass der Optimismus des Anderen, nur eine Lüge ist. Die Freude nur ein Wimpernschlag lang. Das hört man, das sieht man. Eine unbestimmte Traurigkeit liegt um uns, unabstreifbar, wie der natürliche Duft, den wir selbst nie wahrnehmen.
Wir beide besorgen Geschenke für daheim. Und am Bücherturm Marta Minujins greife ich nach meine Kamera, ziehe sie aus der Hosentasche … und lasse sie doch im Schaft, stecke sie wieder in die Hosentasche. Und am frühen Nachmittag gehen Allison und ich Eis essen. Es ist mein erstes Mal, und ich gestehe Allison, dass ich bereue, mein erstes argentinisches Eis am letzten Tag in Argentinien zu probieren. Ich überreiche ihr ein gemeinsames Photo, auf die Rückseite habe ich ihr eine Widmung und ein Gedicht geschrieben, Verse, die sie noch lange bewegen werden, wie sie mir in einigen Tagen verraten wird, genauso wie, dass sie schon bald nach Buenos Aires zurückkehrt: Sie kennt ein Künstler-Haus, in dem sie ›es‹ versuchen will. Sie zeichnet mir einen ›sich freuenden Konrad‹ auf die Serviette. Ich freue mich, falle in Gedanken. ›Nein, ich bin nicht traurig‹, entgegne ich Allison, ›ich suche nur nach einer passenden Metapher für diese Serviette. Ich denke an einen letzten Beitrag‹. ›Ich dachte, denn hast du schon verfasst?‹ – ›Hm, stimmt, hab ich auch, aber irgendwie ist es doch wert, hier, unsere letzten Minuten, oder?‹
Dann nimmt das Taxi Allison mir weg. Aber wir müssen alle irgendwann weiter. Ich bin nicht traurig. Ich bin … bin … was bin ich? … ich fühle mich leer, ich fühle nichts, Apathie … ich bin fremd mir selbst gegenüber … Erinnerungen schraffieren mir eine Mimik, die mir erst im Taxi bewusst wird: Meine Mundwinkel hängen herab, schon lange, denn die Gesichtsmuskeln sind steif, lächeln fällt schwer. Meine Augen sind angeschwollen, sie flimmern. Und für einen Augenblick suchen meine Tränen einen Ort der Trauer, aber es bleibt nur bei einem Klos im Hals. Und das Taxi kullert wie eine Träne aus der weinenden Stadt, kullert einem dunklen Tränenstreifen hinterher.
Vier Zigaretten habe ich noch. Die Letzten. Wenn ich bald gehe, soll das Rauchen hier bleiben. Im Sekundentakt halten Taxen, Mini-Busse. Menschen begrüßen sich, verabschieden sich, reserviert, überschwänglich, einige schauen traurig oder weinen, andere umarmen sich, lachen und necken sich. Drei noch. Ich versuche sanfte Schritte zu machen, während ich den Gehsteig auf und ab gehe, denn der Klos im Hals ist empfindsam, meine Nerven liegen blank – ich bin gerade schwach. Zwei Zigaretten bleiben mit noch, und ich möchte nicht zurück. Aber wohin? Die letzten Worte sind gefallen. Und jetzt verstehe ich, wie es sein muss, nach einem Arbeitsleben, plötzlich in die Rente zu gehen. Und dann zähle ich im Kopf all die Menschen auf, die mir begegneten und mit der letzten Asche der letzten Zigarette sage ich leise ›hasta luego Argentinia‹.
Im Flieger neben mir schläft Maria aus Uruguay. Und als ich nachts aufwache, tausende Meter über den Wolken, sehe ich sie an. Diese wunderschöne Frau, ich blicke sie an und ihre Anmut vertreibt meine Müdigkeit – und ich werde wehmütig …
Noel hat nie geschrieben.