Die wichtigste Sache ist, Shine wird euch den wahren Feind zeigen, der euer eigenes Denken ist. Und das ist wirklich wichtig. In der Shine-Praxis gibt es allgemein vier Erfahrungen, die im Tibetischen „dewa dam“ (Wonne), „selwa dam“ (Klarheit), „metogpa nyam“ (Gedankenfreiheit) und viertens die Vision von „nyam shi“ oder der Raum der Leerheit genannt werden. Wenn ihr also einen Gedanken durchdringt und ihn befreit, dann durchbohrt ihr ihn mit eurem Gewahrsein, gleichzeitig kann Glückseligkeit da sein. Manchmal empfindet ihr eine Art von Klarheit – selwa – und manchmal empfindet ihr einen Zustand der Gedankenfreiheit und das vierte ist die Sicht einer panoramaartigen Schau, in der ihr die wahre Natur seht oder wie die Dinge wirklich sind. Die Wichtigkeit bei diesem Shine ist, dass man keine Art einer besonderen Erfahrung hat. Nicht weil wir Shine machen. Nein, der Punkt bei Shine ist, frei von diesen vier Erfahrungen zu sein. Ihr sollt nicht nach Wonne greifen, noch nach Klarheit, noch nach einem Zustand der Gedankenfreiheit im Geist, noch sollt ihr nach der panoramaartigen Erscheinung der Phänomene greifen – nach keiner davon. Der ganze Punkt hier ist, frei von den vier Wiedergeburten zu sein. Wenn ihr in der Glückseligkeit gefangen seid, dann werdet ihr im Götterbereich wiedergeboren. Die Götter und Göttinnen erfreuen sich die ganze Zeit über, daher seid ihr in diesem glückseligen Zustand gefangen. Diese Erfahrungen helfen uns nicht. Diese Erfahrungen erscheinen in Shine, damit wir sie loslassen. Das ist es, worum es in der Meditation geht, nämlich diese Erfahrungen loszulassen. Es geht nicht darum, ein tiefes Verständnis von Glückseligkeit zu erzeugen, sich gut zu fühlen und dann nach immer mehr zu greifen. Auch geht es nicht darum, die Klarheit zu verstehen, in der man die Lichter und wunderschönen Farben sieht. Die Klarheit taucht auch auf, um die groben Gedanken abzuschneiden. Das ist auch Klarheit, aber das ist hier nicht der Punkt. Es ist gut, wenn man ganz und gar durch diese Erfahrungen hindurchgeht, sodass man nicht länger mehr an ihnen festhält. Das ist der Grund, warum man praktizieren muss. Es geht darum, über die Anhaftung an all diese Erfahrungen hinauszukommen, klar?
Zeichen des Fortschritts bei der Praxis
Wie wisst ihr, dass die Praxis funktioniert? Wie kann man das abschätzen? Es ist nicht so schwer, das einzuschätzen. Wenn eure Rohheit sich vermindert hat, dann ist das ein Zeichen. Wenn ihr einen rauen Charakter habt, um damit zu beginnen, dann sollte durch die Meditation euer Charakter sanfter werden. Wenn ihr mehr Mitgefühl habt, dann habt ihr mehr Vertrauen in die Lehren, ihr seid freundlicher zu den Menschen. Die Lehren des Buddha sind nicht nur dazu da, dass ihr zu eurer eigenen Gemeinschaft freundlich seid. Es ist gedacht, zu allen fühlenden Wesen freundlich zu sein. Das ist es, wo es nötig ist, mit Mitgefühl zu arbeiten. Zuerst solltet ihr herausgefunden haben, wie ihr mit anderen fühlenden Wesen umgeht. Zunächst einmal ist es sehr einfach, den geliebten Menschen mit Liebe zu begegnen. Aber dann sollte man die Liebe, die man für seine Familie empfindet, auch den anderen, den Freunden geben. Das ist der zweite Schritt. Drittens sollte man die Liebe, die man den Freunden gegeben hat, nun auch den Feinden geben. Wenn man auch den Feinden mit Liebe begegnen kann, dann wird es einfacher sein, zum vierten Schritt zu gelangen und die Liebe allen fühlenden Wesen geben. Es wird einfacher sein. Andernfalls ist die Aussage, dass alle fühlenden Wesen Eltern sind, nur leeres Geschwätz. Die Aussage bedeutet nichts. Aber zuerst bringt eurer Familie eure Liebe entgegen. Dann gebt sie ganz euren Freunden. Dann gebt sie vollständig euren Feinden. Dann als nächstes, gebt sie allen fühlenden Wesen. Als Buddha davon sprach, dass alle fühlenden Wesen mit uns als unsere Väter und Mütter verbunden sind, sagte er das nicht, um uns zu gefallen. Er sagte es, weil er die Wahrheit sah. Wir haben keine Erinnerung an unsere früheren Verbindungen, das ist unser Problem. Aber mit einer unvergesslichen Erinnerung ist jeder mit dem anderen verbunden. Es ist schwer, das zu akzeptieren. Für mich ist es auch schwer zu akzeptieren, dass ihr meine Väter seid. „Ach herrje,“ denke ich mir. Aber mit seinem Weisheitsauge hat der Buddha gesagt, dass man das sehen wird. Sobald ihr euch der Realisation nähert, werdet ihr die Unendlichkeit der Wesen sehen, die mit euch verbunden sind.
Diese Unterweisungen wurden von Lama Shenphen Dawa, dem Sohn Dudjom Rinpoches gegeben und vom Ngak’chang Rangdrol Dorje (Enrico Kosmus, 2015) ins Deutsche übertragen.