Ich glaube ich habe noch nie groß erzählt, dass meine Familie zweigeteilt ist. Die eine Hälfte lebt in Deutschland, so wie ich, und die andere Hälfte weit weg in Asien - in Kasachstan. Eigentlich ist es nicht einmal mehr die Hälfte, sondern nur meine Großeltern. Aber trotzdem fühlt es sich wie die andere Hälfte an, weil eben genau diese Personen mir so unheimlich wichtig sind. Mit knappen vier Jahren bin ich damals aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Ich habe am Flughafen geheult wie ein Schlosshund - ich wollte nicht weg von meinen Großeltern. Wieso muss ich mich verabschieden? Werde ich sie nicht wiedersehen? Warum kommen sie nicht mit? Wenn man vier Jahre alt ist, versteht man so vieles nicht. Eigentlich versteht man nichts so wirklich, auch wenn man glaubt, dass man es tut. Ich stieg in den Flieger mit meiner Mama, mein Papa war schon ein halbes Jahr vorher nach Deutschland geflogen. Ich schaute immer wieder zurück zu meinen Großeltern, gerade noch hatte meine Oma mich gedrückt, schon wurde ich von der Kälte der ungewissen Zukunft empfangen. Zu allem Überfluss habe ich auch noch mein geliebtes Spielzeug-Saxophon zurückgelassen und weinte deshalb noch mehr. Das war mein erster Flug. Ein Flug ohne Rückfahrtticket. Dafür mit umso mehr Tränen und Trauer.
Manchmal träume ich noch immer von diesem Moment. Früher habe ich noch viel öfter davon geträumt. Die Angst des Verlustes hat mich andauernd begleitet. Wie erklärt man einem kleinen Kind, dass man in ein anderes Land fliegt, um sich dort ein neues Leben aufzubauen? Und dabei geliebte Menschen zurücklassen muss? Wir haben damals bei meinen Großeltern gewohnt und ich habe keinen einzigen Tag ohne sie verbringen müssen, und nun hatte ich das Gefühl ich würde sie nie wieder sehen. Es gab damals noch kein Skype und das Internet war nur wenigen Menschen vorbehalten. In Kasachstan war der Kreis noch begrenzter. So vergingen die Jahre und bis auf ein paar kurze Telefonate, weil diese ins Ausland zu der Zeit so teuer waren, hörte ich immer weniger von meinen Großeltern. Mal eine Karte zum Geburtstag oder zu Weihnachten (ich war leidenschaftliche Grußkarten-Sammlerin) und ein paar liebe Worte durch das Telefon. Aber es war nicht mehr dasselbe.
Dann endlich, nach so vielen Jahren, flogen wir zu meinen Großeltern - mit Rückfahrtticket. Auch wenn mein Russisch unheimlich schlecht war, da ich in Deutschland fast alles verlernt hatte, habe ich mich unheimlich gefreut. Aber eines wurde mir klar: So wie früher wurde es nicht mehr. Über die letzten Jahre hinweg besuchten wir meine Großeltern ein paar Mal, aber viel öfter besuchten sie uns. Erst diesen Herbst war meine Oma hier. Und wisst ihr wie oft ich sie gesehen habe? Genau einmal Mal. Ein verdammtes Mal. Ich könnte schon wieder heulen, wenn ich daran denke. Eigentlich tue ich es wirklich. Mein neues Leben, mein Studium haben es mir einfach nicht ermöglicht sie öfter zu sehen. Dann war mein Opa letzten Monat zu Besuch und diesmal wollte ich es richtig machen. Die Semesterferien kamen mir dabei entgegen und so konnte ich wenigstens ein paar Tage mit ihm verbringen.
An einem Abend sagte meine Mutter zu mir, dass es meinem Opa gesundheitlich nicht mehr so gut geht und es vielleicht das letzte Mal war, dass er Fliegen konnte. Während sie sprach, realisierte ich erst, was das Ganze bedeutete: Wenn ich nicht selber noch einmal zu meinen Großeltern fliegen würde, wäre das vielleicht der letzte Abschied. Im Unterbewusstsein war mir das bei jedem Abschied klar, sowohl bei meiner Oma als auch bei meinem Opa, aber so richtig eingestehen wollte ich es mir nie. Aber diesmal fiel der Groschen.
Vielleicht war es das letzte Mal. Jedes Mal wenn ich mich von meinen Großeltern verabschiedete, wusste ich irgendwo tief in mir, dass es vielleicht das letzte Mal war. Dabei war mir dieser Gedanke eigentlich mit meinen vier Jahren viel bewusster als er in den letzten 10 war, wo sie immer wieder zu Besuch kamen. Vielleicht war es das letzte Mal. Das allerletzte Mal. Es ist schrecklich sich zu verabschieden, wenn man diesen Gedanken im Hinterkopf hat. Früher habe ich nie verstanden, wieso alle so schrecklich geweint haben, aber mittlerweile verstehe ich nur allzu gut. Ich will nicht, dass es das letzte Mal war, das lasse ich nicht zu. Aber irgendwann wird es wirklich das letzte Mal sein und dagegen kann ich nichts tun.