Victoria

Von Pressplay Magazin @pressplayAT

Sebastian Schipper macht mit Victoria das, was Hitchcock schon mit Cocktail für eine Leiche tun wollte: einen kompletten Film in einer einzigen Einstellung. Die Geschichte funktioniert trotz, nicht wegen, des Verzichts auf einen Schnitt.

Victoria (Laia Costa), eine junge Spanierin, die erst seit ein paar Monaten in Deutschland lebt, lernt eines Nachts vier junge Männer kennen: Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff). Was zunächst wie ein vergnüglicher Abend voller Bier, Joints und Spaß beginnt und sich eine aufkeimende Zuneigung zwischen Victoria und Sonne anbahnt, wendet sich dramatisch, als es plötzlich um die Rückzahlung alter Schulden geht. Da Fuß ausfällt, bitten die Männer Victoria bei einem Banküberfall um Hilfe, und: sie willigt ein. Keiner von ihnen wird diese Nacht jemals vergessen, geschweige denn noch die gleiche, unbeschwerte Person sein, wie zu Beginn.

Natürlich ist das außergewöhnliche an Victoria der komplette Verzicht auf einen Schnitt. Immerhin wird der Film ja auch damit beworben. Andererseits stellt man sich unweigerlich die Frage, wieso das Ganze? Während dem Betrachten fällt kein Grund ein, warum das Drehen in nur einer Einstellung für die Geschichte oder die Figuren eine Notwendigkeit ist. Vielmehr erscheint es wie ein inszenatorisches Gimmick, als hätten Schipper und seine Ko-Autoren nicht genügend Vertrauen in das, was sie erzählen, und greifen deshalb auf einen "Trick" zurück um das Interesse des Publikums zu wecken und den Film von der Masse abzuheben. Nach der Sichtung verhält es sich wiederum vollkommen konträr und man fühlt sich so stark in das soeben Gesehene involviert, dass man die Figuren und ihre Schicksale ins Herz geschlossen hat. Es bleibt eine nicht zu beantwortende Frage, ob dieses Gefühl von der Art der Inszenierung herrührt oder von dem unglaublich intensiven Spiel der Schauspieler - was jedoch wiederum ein Resultat der Inszenierung ist. Man sieht schon, Victoria entwickelt auch für den Zuschauer einen zwiegespaltenen Teufelskreis.

Auch wenn angeblich die Idee einen Film komplett ohne Schnitt zu machen, schon immer ein Anliegen Schippers war und noch vor der Geschichte und den Figuren von Victoria kam, so hätte er sich eventuell eine passendere Handlung dafür ausdenken sollen, damit dieser Kunstgriff auch eine zusätzliche inhaltliche oder stilistische Begründung und Verknüpfung innerhalb des Erzählten hat. So lenkt der Regisseur leider zu viel Aufmerksamkeit auf die Art der Inszenierung und zu sehr von dem eigentlichen Werk ab, beraubt sich selbst sogar einem genuin filmischen Stil- und Ausdrucksmittel, welches erheblich zur Gestaltung einer eindrucksvollen Bildsprache beiträgt. Was Victoria eigentlich nicht verdient hat, denn es ist ausreichend dramatisches Potenzial vorhanden um dem Zuschauer ein mitreißendes Erlebnis zu bescheren, was er ja auch tut und sich im Verlauf der Geschichte immer mehr steigert.

Hierbei sind es allen voran die wirklich fantastischen Schauspieler (besonders Costa, Lau und Rogowski) die Victoria tragen und dafür sorgen, dass die Geschichte noch lange nachwirkt. Genau wie die Figuren im Film, braucht aber auch der Zuschauer eine knappe Stunde, bis er sie kennen und mögen gelernt hat, wenngleich nur Victoria selbst und Sonne zu wirklich vollendeten Charakteren heranreifen (sie beanspruchen auch die meiste Filmzeit und sind eindeutig als Protagonisten zu identifizieren). In der fast 60-minütigen Exposition kommt die Art der Inszenierung (rückblickend betrachtet!) vielleicht zum einzigen Mal wirklich zu tragen, da man als Zuschauer in die gleiche Situation gebracht wird, wie die Charaktere selbst: verlegenes und verhaltenes kennenlernen.

Victoria entwickelt wahrlich einen ganzen eigenen faszinierenden Sog, der jedoch weniger von seiner Inszenierung herrührt, da sich Schipper Bildsprachlich stark limitiert hat, sondern viel mehr von den Schauspielern kommt, der Film lebt förmlich von ihnen (was sich in zahlreichen subtilen Gesten und Situationen zeigt, die man sonst nie in einem Film sieht und die Figuren um eine zusätzliche menschliche und natürliche Dimension bereichern). Es ist schwierig Victoria einer handelsüblichen Kritik (und Bewertung) zu unterziehen, da es ein Film ist, der nicht nur unglaublich stark nachwirkt (vielleicht sogar seit langem einer jener Filme, die einem nicht mehr loslassen, wenn man ihn einmal gesehen hat) und ironischerweise auch zeigt, wie unwichtig ein Regisseur sein kann, sondern der zusätzlich zahlreiche Fragen über die Natur des Films, des Filmemachens und der filmischen Sprache aufwirft, über die Möglichkeiten des Mediums und das nach wie vor vorhandene Potenzial origineller neuer Ideen und Stoffe und Erzählweisen. Fragen, die hier nicht beantwortet werden können, die Victoria aber zu etwas besonderem und einzigartigem machen, einem Erlebnis, das man (im Guten, wie im Schlechten) auf jeden Fall gesehen haben sollte.

Regie: Sebastian Schipper, Drehbuch: Olivia Neergaard-Holm, Sebastian Schipper, Eike Frederik Schulz, Darsteller: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Filmlänge: 139 Minuten, Kinostart: 26.06.2015

Aufgabenbereich selbst definiert als: Kinoplatzbesetzer. Findet den Ausspruch „So long and take it easy, because if you start taking things seriously, it is the end of you" (Kerouac) sehr ernst zu nehmend.