Als dieses Buch seinerzeit (1985) in meine Hände kam – noch in der blauen Ausgabe von Reclam – habe ich es bereits verschlungen. Ich war mir schon damals nicht sicher, ob den Zensoren da etwas unterlaufen ist oder ob sie die Parallelen zwischen der LTI und der offiziösen DDR-Zeitungs-Sprache nicht sahen oder sehen konnten.
Nun habe ich es wiedergelesen. Und nach mehr als 20 Jahren dazwischen hat das Buch für mich noch immer die Faszination behalten, die sich daraus ergibt, dass Victor Klemperer anhand der Analyse einer Sprache zur Analyse eines (gesellschaftlichen) Systems kommt. Das ist auch heute – man schlage nur die Zeitung auf oder höre/sehe Nachrichten – sehr aktuell.
…zu verschwinden hat ja nicht nur das nazistische Tun, sondern auch die nazistische Gesinnung, die nazistische Denkgewöhnung und ihr Nährboden: die Sprache des Nazismus. (aus dem Vorwort)
Klemperer geht (zu Recht) davon aus, dass der Gebrauch von Sprache, von verschiedenen Worten in ihrer Bedeutung mehr über eine Gesellschaftsformation aussagt, als der Sinn der benutzten Worte auf den ersten Blick erkennen läßt. Da der Inhalt, die Wortbedeutungen, sich in einer lebendigen Sprache verändern, kann aus Bedeutungsänderungen auf das die Sprache determinierende Umfeld geschlossen werden.
LTI bedeutet “Lingua Tertii Imperii – Sprache des Dritten Reiches. Schon allein, dass Klemperer diese Abkürzung benutzt ist eine Anspielung auf den Wahn, aus sogenannter Sprachökonomie alles abzukürzen, was irgendwie abkürzbar war. Das scheint (mir) aber kein nur deutsches Phänomen zu sein; und aus diesem AküFi (Abkürzungsfimmel) erwuchsen auch der DDR-Sprache einige Ungeheuer – und wer weiß denn heute noch, dass zum Beispiel VW und BMW und DRK und Etliche mehr in genau der Zeit entstanden sind, die Klemperer beschreibt. (warum fallen mir gerade die “Fantastischen Vier” ein und der Song “MfG” ein?)
Darüber hinaus schreibt Klemperer auch, welche Auswirkung diese “bettelarme” (Kapitel 3) Sprache des Dritten Reiches auf den geistigen Zustand eines Volkes haben kann und welch Auswirkungen es zeitigt, wenn der Mob, der genau diese Art von Sprache (nur) versteht, Macht bekommt und diese auch nutzt. Klemperer schreibt über die sogenannte “Gleichschaltung”, die weit über die von diversen Organisationen hinausgeht, sondern sich in den Köpfen der Menschen festsetzt so dass denen ein Denken und Handeln neben oder gar gegen den Gleichschritt kaum noch und nur mit (geistiger) Anstrengung möglich ist.
Die durch die Sprache der Regierenden, der Mächtigen verursachte geistige Leere eines ganzen Volkes – über die Klemperer aus der Zeit des Dritten Reiches schreibt – erinnerte mich bereits ’85 in fataler Weise an das, was die tägliche Presse der DDR verbreitete. “Eine Beleidigung der eigenen Intelligenz” nannte das Wolfgang Thierse vor einigen Wochen in einem Interview.
Als eines der hervorstechendsten Merkmale der LTI brandmarkt Klemperer die häufige Nutzung von Superlativen; egal ob sie sinnvoll sind oder nicht. Gerade der Teil hat mich auch sehr an die Sprache der “größten DDR der Welt” erinnert. Doch nicht nur wegen dieser Vergleiche ist das Buch lesenswert (wobei es auch interessant ist, die beschriebene Propaganda mit der der heutigen zeit zu vergleichen. Heute ist das viel subtiler und stiller; aber auch leise Fehlinformationen oder Nichtinformationen erzeugen ein Weltbild in der Gesellschaft, das mit der Realität wenig gemein haben kann). Vor allem ist das Buch ein Dokument der Menschlichkeit, des humanistischen Weltbildes, das Klemperer nie verlässt in allen Widrigkeiten.
Es gibt wenige Helden – und Sprachwissenschaftler zählen definitiv sehr selten dazu – aber Victor Klemperer ist ein solcher. Selbst seine Anklagen sind frei von Vorwurf. Und er ist optimistisch genug daran zu glauben, dass die Menschheit und insbesondere die Deutschen lernfähig sind.