„Geh nicht“, diesen Satz hatte er 89 schon einmal gesagt. Das war im Juli.
Es ist Herbst geworden in Kiel, in Ludwigshafen flirrt noch der Sommer vor den Fenstern. Stickige Krankenhausluft. „Geh nicht.“
Er erzählt von der alten Frau R. die ihn schon erwarten würde, mit Bratpfanne in der Hand. Mein pfälzischer Bruder der sagt: Das ist das schlechte Gewissen. Er hat dich manchmal zu spät abgeholt oder?“
Ja, Frau R. in Dederonschürze, alt wie ein Baum, immer mit einem Glas Kekse bewaffnet, war sauer weil das ihre Arbeitszeit verlängerte. Ich war krippenuntauglich. Ich war ein schwächliches Kind, vermutlich eine Folge des zu früh geboren seins. Hab mich schon früh dem Kollektiv entzogen. Sie pflegte auch das Rosenbeet vor unseren Plattenbau mit Hingabe.
Meinen Bruder habe ich nicht nach seinen Erinnerungen gefragt. Sein Vater war jung, meiner in den besten Jahren und mit einem Bruch hinter sich.
Wieder zu Hause lese ich „Nachwendekinder“ von Johannes Michelmann. Es berührt mich wenig, ist nicht meine Erinnerung. Es wäre ein Buch , welches meine Kinder hätten schreiben können, aber die interessiert die DDR kaum. Nur Karla fragt manchmal nach.Es gibt kein Schweigen, keine unaufgedeckten dunklen Flecken. Die Betonung liegt auf unaufgedeckt. Dunkle Flecken gibt es.
Aber es gibt sehr wohl Dinge die nicht zu verstehen sind. Die Nachwendezeit habe ich nur am Rand mitbekommen. MEine Eltern verloren beide ihre Arbeit, die Arbeit die sie dann fanden entsprach nicht ihren Qualifikationen. Ich hab meinen Vater nie klagen hören.
Ungeordnete Erinnerungen
Ich habe eine Schwäche für Ludwigshafen. Es ist so bodenständig, unprätentiös, rau und lebendig. Es ist nicht der Pfälzer Wald von dem mein Vater immer sprach. Und ich gestehe, manchmal fühle ich in Plattenbausiedlungen ein seltsames Heimatgefühl aufkommen.