Verstörend real: We need to talk about Kevin

Verstörend real: “We need to talk about Kevin”

© Fugu Filmverleih / Tilda Swinton in “We need to talk about Kevin”

Da kursieren noch die tragischen Ereignisse um die Aurora-Morde in einem Filmtheater in den Köpfen der Menschen, da kommt am 16. August 2012 mit „We need to talk about Kevin“ ein Film in die Kinos, der das Seelenleben einer Mutter beschreibt, dessen Sohn selbst zu einem solchen Attentäter wird. Seine Premiere feierte der Film mit Tilda Swinton in der Hauptrolle auf den Filmfestspielen von Cannes im Jahre 2011, im Oktober letzten Jahres, lange vor den Ereignissen bei der Mitternachtspremiere zu “The Dark Knight Rises“, startete er im United Kingdom, wo auch Lynne Ramsay, die Regisseurin des Films herstammt. In Deutschland startet der Film nun einen Monat nach diesen schrecklichen Ereignissen und man kann nur hoffen, dass der Film dennoch die Aufmerksamkeit erhält, die er durchaus verdient hat.

Das liegt vor allem an Hauptdarstellerin Tilda Swinton. Sie spielt die ehemalige Reisejournalistin Eva Khatchadourian, die eine schwere seelische Last mit sich trägt. Grund ist ihr Sohn Kevin (Ezra Miller), der bereits als Baby eine eigenwillige Distanz zeigt, die es seiner Mutter schwer macht, Nähe zu ihm aufzubauen. Während Vater Franklin (John C. Reilly) an seinem Sohn nichts Ungewöhnliches sieht, ist Eva besorgt über die mangelnde Empathie und seine Lust an Zerstörung.

Verstörend real: “We need to talk about Kevin”

Die Eltern von Kevin: Tilda Swinton und John C. Reilly

Ramsay verwickelt die Zuschauer sofort in surreale Bildwelten, konfrontiert die Zuseher mit traumgleichen Bildern, die weder der Realität zuzuordnen sind, noch vermitteln, ob sich das Gesehene eventuell bereits abgespielt hat oder noch abspielen wird. Es ist ein Verwirr-Zirkus, der mit einem harmlos wehenden, unschuldig weißem Vorhang beginnt, der uns den Blick nach draußen verwehrt. Die Aussicht aus dem Fenster heraus wird man später aber noch gewährt bekommen, dann jedoch wird man sich wünschen, lieber doch nichts von der hinter dem Vorhang verschleierten Tat mitbekommen zu haben. Tilda Swinton findet sich in einer Masse von Menschen wieder, rote Farbe dominiert die Szene, dann wird ihre kleine Tochter gezeigt, wie sie quietsch vergnügt mit Augenklappe durch das Haus tobt, während Swinton sich den Kopf unter Wasser hält und ihr Gesicht dabei zu dem ihres Sohnes mutiert. Jede Sekunde des Films erscheint wie ein grotesker Moment, dessen Zusammenhänge sich einem nicht sofort erschließen: Eine alte Dame verpasst Mutter Eva auf offener Straße eine Ohrfeige, die sie offenbar verdient hat. Beim Blick in den Spiegel erscheint jedoch nicht die zu erwartende Druckstelle einer Ohrfeige, sondern eine viele Zentimeter lange Narbe, die sich über ihr gesamtes Gesicht zieht. Das Seelenleben dieser Frau ist wahrlich arg durcheinander, dass lassen uns die Bilder nur zu gut erahnen.

Diesen surrealen Begebenheiten, die man noch nicht weiter miteinander in Beziehung setzen kann, folgen Erinnerungsrückblicke, die einen Blick auf Kevins Geburt und seine Kindheitstage geben, die bereits wie eine finstere Dystopie daherkommen. Auf einmal sieht man Tilda Swinton in einem schwarz abgedunkelten Gang stehen, eine Horde Mädchen mit pinken Röcken rennt schreiend an ihr vorbei. Ein verstörendes Bild, welches von dem Geschrei ihres eigenen Babys abgelöst wird. Die Mutter rettet sich zu ohrenbetäubenden Baustellen auf der Straße, wo die Presslufthammer ihr die nötige Ruhe vor ihrem Kind ermöglichen. Man spürt es der Schauspielerin an, dass hier eine gewaltige Anspannung erzeugt wird. Man klebt Swinton an den Lippen, möchte hören, dass sie etwas zu ihrem Sohn sagt, aber ganz gleich in welchem Alter, offenbar hat sie ihm keine weisen Worte mit auf den Weg zu geben, ist machtlos gegenüber der puren Leere, die sich in seinen Augen wiederspiegelt. Swinton gibt eine hervorragende, hilflose Mutter ab, die oftmals den Mund öffnet um ein Wort zu sagen, es dann aber einfach nicht über die Lippen bekommt. Dementgegen ist aber auch die Leistung von Ezra Miller nicht zu verachten, der Kevin in seinen Teenagerjahren verkörpert und seiner Mutter bei jeder sich bietenden Gelegenheit ein Bild von sich vermittelt, welches wahrlich bedrohlich wirkt. So langsam macht sich bemerkbar, dass die Augenklappe der Tochter und kleinen Schwester Kevins nicht irgendein herkömmlicher Unfall gewesen sein kann, sondern vielmehr ein toternster, böser Bruderstreich.

Verstörend real: “We need to talk about Kevin”

Ezra Miller spielt Kevin

Aber in der Familie wird dieses Thema totgeschwiegen, ein ermahnendes Wort der Mutter wird gekonnt heruntergespielt, Vater John C. Reilly, in dessen Kopf sich ein normales Familienleben abspielt, nimmt seinen Sohn eher in Schutz als ihn als unnormalen Teenager wahrzunehmen. Dabei sind genügend Vorzeichen zu erkennen: Bei der Geburt seiner kleinen Schwester bespritzt er diese bereits eifersüchtig mit Wasser und bringt sie zum weinen, Jahre später wird sie in Weihnachtsschmuck gefesselt aufgehängt und mit dem Staubsauger versucht Kevin ihr die Haare abzusaugen. Nicht ohne Grund, aber ohne klärende Worte, packt seine Mutter ihn irgendwann und schleudert ihn brutal gegen die Wand. Sein Arm ist gebrochen, die Mutter fühlt sich schuldig. Aber ist dieses Kind wirklich die Schuldgefühle Wert? Oder wäre die Mutter damit ebenso verkommen wie ihr Sohn? Fragen, die sich erübrigen würden, wenn der Aufruf des Filmtitels befolgt werden würde: We need to talk about Kevin, wir müssen uns über Kevin unterhalten.

Die große Stille des Films wird am Ende erschreckend gebrochen, der Bogen wird gespannt – im wahrsten Sinne des Wortes – und hier losgelassen. Die Bilder sind noch verstörender als zuvor, sie hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Ebenso wie die darstellerische Leistung von Tilda Swinton, die durchweg eine emotionale Mitgenommenheit spielt, die ihresgleichen sucht. „We need to talk about Kevin“ lebt von dieser Emotionalität, von der Ruhe, die mit der inneren Aufwühlung kontrastiert wird. Aber es ist das Ende des Films, die letzten fünf Minuten, der Blick auf Vater und Tochter, die Taten von Kevin, die Gefühle der Mutter, die ein erschreckendes Szenario darlegen, über das man nicht weiter nachdenken möchte – aber muss.

Denis Sasse


Verstörend real: “We need to talk about Kevin”

“We need to talk about Kevin“


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