„Verschwörungstheoretiker spielen in derselben Liga wie Hellseher, Astrologen und Gurus“

Telepolis, 25.08.2018

Ein Interview über Verschwörungstheorien, den Zauber der Illusion und die Taktik der Kommunikationsguerilla mit den Mitgliedern des Autorenkollektivs Wu Ming

Bei Wu Ming handelt es sich um ein 2000 gegründetes und ursprünglich aus fünf anonymen Personen bestehendes Autorenkollektiv, das sich den neuen sozialen Bewegungen zurechnet. Die Gruppe ging aus dem Luther Blissett Project hervor, in dem mit Praktiken der Kommunikationsguerilla experimentiert wurde – und das den international viel beachteten Roman Q verfasste.

Frage: Es ereignen sich derzeit merkwürdige Dinge in den sozialen Netzwerken, die von rechten Gruppen frequentiert werden, wie etwa 4chan – selbst wenn man die niedrigen Standards der extremen Rechten bedenkt. Eine bizarre Verschwörungstheorie, einfach „Q“ oder QAnon genannt, gewinnt an Zugkraft. „Q“ ist auch der Titel eines Ihrer bekanntesten Werke. „Q“ behauptet auf 4chan unter anderem, dass Donald Trump als wahrer amerikanischer Held in einen titanischen Kampf gegen eine globale Verschwörung verwickelt ist, hinter der eine mächtige pädophile Organisation steht. Haben Sie als Wu Ming diese Verschwörungstheorie durch Taktiken der Kommunikationsguerilla provoziert?

Wu Ming: Wu Ming und die Wu Ming Stiftung machen keine Medienstreiche. Das war eine der Aktivitäten des Luther Blissett-Projekts (LBP), das vom Juni 1994 bis zum 31. Dezember 1999 aktiv war. Nach dem Ende des Projekts entwickelten sich alle Beteiligten weiter und gründeten neue Projekte und Kollektive.
Wu Ming ist der Name, der im Januar 2000 von den Autoren angenommen wurde, die unter dem Sammelbegriff Luther Blissett den Roman Q geschrieben hatten. Nach dem Ende des LBP und der globalen Wirkung von Q haben wir uns entschlossen, weiter mit der neuen Form und der metageschichtlichen Fiktion zu experimentieren. In den folgenden Jahren schrieben wir 54, Manituana, Altai, The Army of Sleepwalkers und in diesen Tagen beenden wir einen neuen Roman mit dem Titel Proletkult. Wir schrieben auch stark recherchierte, faktenreiche Werke, die man vereinfacht als kreative Sachbücher bezeichnen könnte. Wir selbst nennen sie „Unidentified Narrative Objects“, UNOs.
In Italien hat sich eine Art „Fan-Aktivismus“ rund um unsere Romane und UNOs entwickelt, eine riesige Community aus unserem Blog Giap und unserem Twitter-Profil, mit vielen Experimenten, transmedialem Storytelling, Kooperationsprojekten, offenen Workshops und Seminaren, neuen Blogs und Kollektiven, sogar neuen Bergsteigerclubs. Dieser Prozess hatte bereits in den 2000er Jahren begonnen, hat sich aber in den 2010er Jahren intensiviert und beschleunigt. Dieses „Kollektiv der Kollektive“ nennen wir die Wu-Ming-Stiftung.
Wir sind in die internationale Debatte über den QAnon-Hoax eingestiegen, weil er viele Ähnlichkeiten mit der Arbeit des LBP und unserem alten Roman aufweist. Viele Leute haben uns in den letzten Wochen kontaktiert. Wir hatten schon vor dem Buzzfeed-Interview Dutzende von E-Mails und Twitter-DMs erhalten. Jeder, der unseren Roman gelesen und dann die Nachrichten über das QAnon-Phänomen gelesen hat, fand es offensichtlich, dass letzteres sich von ersteren inspirieren ließ. Man wollte wissen, was wir von der ganzen Sache halten.
Nicht nur die Verweise auf unseren Roman sind schwer zu übersehen – angefangen beim offensichtlichsten: „Q“ selbst und seine Botschaften -, sondern auch die Ähnlichkeiten zwischen QAnon und der Art von Medienstreichen, die wir in den Luther Blissett-Tagen gespielt haben.

Link: https://www.heise.de/tp/features/Verschwoerungstheoretiker-spielen-in-derselben-Liga-wie-Hellseher-Astrologen-und-Gurus-4142270.html


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