Verschlossen

Grossfamilienleben – schön, abwechslungsreich und manchmal auch ganz schön anstrengend, wenn man sich im Gewirr der vielen Stimmen Gehör verschaffen will. Dass es oft mehr als ein sanftes Säuseln braucht, um sich gegen die anderen durchzusetzen, versteht sich von selbst. Eines der wirkungsvollsten Mittel im Kampf um die allgemeine Aufmerksamkeit: Die verschlossene Badezimmertür. 

In ihrer mildesten Form kommt sie zur Anwendung, wenn einer findet, er habe jetzt genug Küchendienst geleistet. Flugs wird eine volle Blase vorgetäuscht und schon hat man sich eine Auszeit von der Schinderei verschafft. Natürlich gibt man vor, sich zu beeilen, kommt aber erst wieder raus, wenn das Ende der Arbeit absehbar ist und man höchstens noch einen Teller wegräumen oder einen Lappen in den Wäschekorb werfen muss. Klar, die Vorwürfe, die man zu hören bekommt, wenn man endlich das Bad verlässt, sind nicht besonders nett, aber immerhin hat man der ganzen Familie bewiesen, dass man sich durchaus zur Wehr setzen kann, wenn die Eltern mal wieder zu viel Einsatz verlangen. 

Die verschlossene Badezimmertür ist auch ein wirkungsvolles Mittel, wenn man der älteren Schwester, die in Diskussionen stets die Oberhand behält, vor Augen führen will, dass man sich trotz ihrer Wortgewandtheit nicht klein kriegen lässt. Kaum hat sie ihren Putzdienst angetreten, verschwindet man im Bad, um ausgiebig zu duschen. So ausgiebig, dass die Tür  noch immer verschlossen ist, wenn sie ganz dringend rein müsste, um den Putzkessel zu holen. Als wäre man ganz plötzlich von einem Hygienefimmel gepackt worden, zieht man das Haarewaschen, das Eincremen und das Anziehen so sehr in die Länge, bis die Schwester wutschnaubend von dannen stapft. Solange der jüngere Bruder kein Einsehen kennt, ist an ein Ende der Putzarbeiten nicht zu denken, also ist sie gezwungen, eine Pause einzulegen. Doch kaum hat sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht, öffnet sich die Badezimmertür wie von Zauberhand. „Da hast du deinen doofen Putzkessel. Musst du mich immer so hetzen, wenn ich am Duschen bin?“, raunzt der nunmehr blitzsaubere Bruder und zieht sich hochzufrieden in sein Zimmer zurück. 

Die fieseste Methode aber ist es, im Bad zu verschwinden, wenn einer frühmorgens ganz dringend den Zug erwischen müsste, aber die Zähne noch nicht geputzt hat. Welch ein erhebendes Gefühl, endlos lange auf dem WC zu sitzen und zuzuhören, wie Eltern und Geschwister panisch gegen die Tür poltern und brüllen, man solle gefälligst aufschliessen, der Bruder verpasse sonst seinen Zug! So viel Macht hat man selten über seine Liebsten. Und so sehr man seine Liebsten auch lieben mag – an manchen Tagen muss man ihnen doch einfach zeigen, wer hier der Chef ist.

Wer nun denkt, das Problem mit der verschlossenen Badezimmertür liesse sich ganz einfach umgehen, indem man im Haus mehrere Bäder einbaut, der irrt leider. In unserem Haus gibt es drei Bäder, aber nur eine der drei Türen hat die Macht, den Familienfrieden ernsthaft zu beeinträchtigen, denn das Bad ist so günstig gelegen, dass immer einer in der Nähe ist, der das Drama mitbekommt. 

Keine andere Tür in unserem Haus ist so oft verschlossen wie diese. 

Verschlossen


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