Ich hatte mit ja vorgenommen, dieses Buch, über das ich mich wegen des Titels „Freiheit statt Kapitalismus“ und vor allem aber wegen des Mottos „Erhard reloaded“ schon so aufgeregt habe, auch wirklich zu lesen, damit ich weiß, worüber ich mich überhaupt aufrege. Jetzt habe ich das endlich getan. Leider bin ich finanziell so minderbemittelt, dass ich mir nicht jedes Buch, das ich lesen möchte, einfach mal eben kaufen kann, um es dann weiterzugeben, wenn ich es nicht noch einmal lesen will. (Bücher, die mir gefallen, behalte ich schon, um sie noch mal und noch mal zu lesen, aber das ist natürlich längst nicht bei allen der Fall). Doch inzwischen hat mich ein Exemplar erreicht, welches ich umgehend pflichtschuldig studiert habe. Eins vorweg: Natürlich hatte ich mich inzwischen schon längst wieder abgeregt, weshalb ich nun gar nicht nach Aufregern suche, sondern versuche, das ganze Ding möglichst nüchtern zu bewerten.
Vor allem eins muss ich Sahra Wagenknecht ja lassen, fleißig ist sie! Ich gehe mal davon aus, dass sie ihr Buch nicht von schlecht bezahlten Praktikanten hat recherchieren oder gar schon mal rohschreiben lassen, um dann mit dem ihr eigenen Wagenknecht-Stil, der durchgängig erkennbar ist, drüber zu gehen, damit sich es einheitlich liest. Nein, ich gehe davon aus, dass man wenigstens in der Linken noch Respekt vor geistigen Eigentum hat, also vor dem, was andere schreiben, und sich das Geschreibsel der anderen nicht einfach zusammenklaut, um es mit dem eigenen Namen versehen zu veröffentlichen. Auch traue ich Wagenknecht zu, dass alles selbst zusammen getragen zu haben, schließlich promoviert sie im Fach Volkswirtschaftslehre über „The Limits of Choice. Saving Decisions and Basic Needs in Developed Countries“. Vielleicht ist sie auch schon fertig damit, das war auf die Schnelle jetzt nicht zu recherchieren.
Marktleute bei ihrem Tagewerk
Bei der allgemeinen Verlotterung der Sitten, die insbesondere im schwarzgelben Umfeld zu beobachten ist – Gutti, Vroni, Silvana, um nur die ganz prominenten Fälle zu nennen – muss wenigsten die Linke die Urheberrechts-Fahne noch hoch halten. Ja, Leute, so ist das: In solchen Zeiten leben wir! Und wo die Linke schon mal dabei ist, hat die Ex-Vorzeige-Linksaußen-Linke Wagenknecht auch gleich die Ludwig-Erhard-Fahne der Marktwirtschaft und des Leistungsgedankens übernommen, die sie nun genauso hoch hält, vielleicht sogar noch ein bisschen höher.
Freiheit gehört zum Kapitalismus
Früher auf der Kommunistischen Plattform sollte Wagenknecht doch mal mitbekommen haben, dass Freiheit nichts Schönes ist, aber nun mal zum Wesen des Kapitalismus gehört, denn nur freie Individuen können ihre Haut zu Markte tragen, um sich dort zum Vorteil anderer ausbeuten zu lassen. Vielleicht hätte die gute Sahra neben Alfred Müller-Ammack, Walter Eucken und der FTD auch mal wieder Karl Marx lesen sollen, was sie früher bestimmt mal getan hat – jedenfalls gibt es eine Arbeit über die Marxsche Arbeitswerttheorie, die sie mal geschrieben hat. Marx erklärt jedenfalls sehr schön, wie das mit der Freiheit, Gleichheit und so weiter im Kapitalismus ist. (Das Kapital Band 1, zweiter Abschnitt, viertes Kapitel „Die Verwandlung von Geld in Kapital“ Abschnitt drei „Kauf und Verkauf der Arbeitskraft“, ziemlich gegen Ende unter der Seitenüberschrift „Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham“).
Immerhin liefert sie mit ihrem neuen Buch einen kompakten Einführungskurs in die Grundlagen der neoliberalen Markt- und Finanzwirtschaft und erklärt in didaktisch aufgebauten Artikeln, wie der ganze Finanzschrott, der nun den Euro und den Dollar und so ziemlich alle außer den Managern, die sich diese innovativen Finanzprodukte ausgedacht haben, in ihrer Existenz bedroht, erfunden und verpackt wurde, um ihn unter die Leute zu bringen. Zwischendurch sind auch eher anekdotische Kapitel eingestreut, etwa „Kochen wie zu Kriegszeiten?“ in dem Wagenknecht auf die Existenz von Hartz-IV-Kochbüchern hinweist, damit die neu erschaffene Klasse der Niedriglöhner wenigstens satt wird (da fallen mir spontan die Rechenkünste vom ollen Sarrazin ein, den Wagenknecht unnötig taktvoll unter den Tisch fallen lässt) oder „Moral im Haifischbecken“, in dem Wagenknecht feststellt, dass Haie nun mal keine Moral haben, weil das nicht ihrer Natur entspricht, genau wie es nun auch nicht in der Natur von Kapitalisten liegt, Skrupel zu haben. Wenn man nicht gefressen werden will, hilft Moral nicht weiter. Wagenknecht schlägt deshalb vor, statt der Haie doch besser Karpfen zu züchten. Nun ist der Karpfen zweifelsohne ein friedlicher Geselle, der keinem Schwimmer ins Bein beißt, aber so einen armen Süßwasserfisch kann man schlecht in den Ozean setzen. Aber es geht hier ja nicht um Ökologie, sondern um Ökonomie.
Es sind schon viele Gedanken in dem Buch, die ich durchaus richtig finde, etwa, das es keinen grünen Kapitalismus geben kann, oder dass die moderne Konzern- und Finanzelite genau wie frühere Feudalherren ganz selbstverständlich kraft ihres ererbten Status über die Arbeitskraft von Millionen Menschen verfügt und deshalb auch meint, die Bedingungen, unter denen alles statt findet, diktieren zu können. Dafür wird an allem gespart, nicht nur an den Arbeitslöhnen, sondern auch an Kreativität und Innovation, es kommt zunehmend auf Marktmacht an und nicht auf Leistung. Und diese egoistischen Superkapitalisten mit ihrem Schmalspur-Rendite-Denken ruinieren die ganze Welt und bilden sich auch noch ein, dass das eine tolle Leistung sei, für die sie entsprechend belohnt werden müssten. Überhaupt Leistung, klar, dass die großen Anhänger des Leistungsgedankes selbst nicht viel leisten, schon gar nicht fürs Allgemeinwohl. Die leisten sich nur fette Gewinne auf Kosten der anderen – das ist aber nichts, was man nicht ohnehin schon gewusst hätte.
Für Erhard war Marktwirtschaft an sich sozial
Und klar, auch die Sozialisten wollen der Oma ihr klein Häuschen nicht weg nehmen, während die Verstaatlichung von Unternehmen natürlich im öffentlichen Interesse ist. Aber warum muss man dazu mit dem ollen Erhard ankommen?! Ja klar, um auch weniger linke Zielgruppen anzusprechen. Deshalb gibt es auch eine Menge populäres Zeug – ich schreib ganz bewusst nicht populistisches, denn populistisch ist es meistens nicht, Wagenknecht hat viele Beispiele zur Hand und kann sie auch erklären – die Dinge sind genauso schlecht, wie sie sie beschreibt. Sie muss überhaupt nicht polemisch werden, es reicht vollkommen, die Fakten aufzuzählen. Insofern kann sie auch alles, was derzeit zu beobachten ist, als Wahnsinn mit Methode entlarven, wie das schon im Vorgänger-Buch geschehen ist. Aber wenn die Faktenlage so eindeutig gegen die herrschenden Zustände, das herrschende System, das herrschende Personal spricht, warum tut Wagenknecht dann so, als wäre man damals nach dem Abgang von Ludwig Erhard nur irgendwie falsch abgebogen vom eigentlich richtigen Weg? So klingt das alles, als müssten wir nur in die 50er Jahre zurück, als noch alles gut war mit der Marktwirtschaft, die damals irgendwie sozial gewesen sein soll. Aber das war sie nie – Markt ist nie sozial.
Genau das hat Ludwig Erhard ganz anders gesehen, für ihn war die Bezeichnung „soziale Marktwirtschaft“ unsinnig, weil seiner Auffassung Markt an sich sozial sei – im Gegensatz zur seiner Ansicht nach unsozialen Planwirtschaft. Je freier der Markt, desto sozialer sei er. Das klingt nicht nur schwachsinnig, sondern ist es auch. Aber genau das ist Erhards Grundannahme: Marktwirtschaft sei an sich sozial, weil sie die Produktion nach den Wünschen der Verbraucher steuere, das Sozialprodukt gemäß der wirtschaftlichen Leistung des Einzelnen verteile, die Produktivität steigere und dadurch höhere Reallöhne ermögliche. Was dann wiederum zum Wohlstand für alle führe. Das ist natürlich völliger Unsinn, wie Wagenknecht in ihren vielen Kapiteln auch akribisch nachweist. Was sie allerdings nicht davon abhält, als Konklusion am Ende des Buches auch noch „Erhard reloaded“ zu fordern, als ob Erhard classic nicht schon schlimm genug gewesen wäre. Nur gab es damals noch ein konkurrierendes System, das behauptet hat, auch ohne Markt sozial sein zu können. Also musste man auch als CDU oder gar FDP ebenfalls nett zu den Arbeitern sein, damit sie nicht am Ende doch zu den Sozialisten/Kommunisten überliefen. Aber Ludwig Erhard und seine Leute haben ganz bestimmt nicht an einen „kreativen Sozialismus“ gedacht, den Sahra Wagenknecht ihren Lesern unterschieben will. Nie im Leben.
Natürlich ist es richtig, dass der Kapitalismus das Versprechen „Wohlstand für alle“ nicht einlösen kann. Deshalb muss diese Wirtschaftsordnung von einer vernünftigeren abgelöst werden. Aber nicht, weil sie die Basis von Freiheit und Demokratie zerstört, wie Wagenknecht schreibt. Freiheit und Demokratie werden im Kapitalismus nicht nur garantiert, sondern auch durchgesetzt, die gehören einfach dazu. Nur ist das an sich halt gar nichts Schönes – aber die Freiheit gefressen oder von einer demokratischen Mehrheit plattgewalzt zu werden, die hat ein jeder.
Insofern ist der Gegensatz „Freiheit statt Kapitalismus“ völliger Unsinn. Ohne Kapitalismus braucht es gar keine Freiheit. Wenn man nicht gezwungen ist, seinen Leben auf den erfolgreichen Gelderwerb hin zu optimieren, dann ist man ohnehin schon sehr viel freier in der Lebensgestaltung. Freiheit ist die Aufforderung und die Notwendigkeit, sich mit den Mitteln eigener Wahl dem kapitalistischen Konkurrenzkampf zu stellen. Was ist daran so toll?
„Vernunft statt Kapitalismus“ wäre eine viel vernünftigere Forderung. Mit vernünftiger Planung kann man was anfangen. Das schreibt Wagenknecht dann interessanterweise auch wieder, natürlich betreibt jedes erfolgreiche Unternehmen auch eine erfolgreiche Planwirtschaft. Und warum soll das, was im Kapitalismus funktioniert, plötzlich nicht mehr funktionieren? Im Gegenteil, wenn man nicht mehr für den Markt, sondern für den tatsächlichen Bedarf produzieren würde, dann könnte das noch viel besser funktionieren! Das schreibt sie dann wieder nicht, aber hier sollte sie unbedingt einmal weiter denken. Statt dessen gibt es am Schluss noch einen Exkurs in Sachen „Ungleichheit macht krank“, in dem Wagenknecht auf die Studien von Kate Pickett und Richard Wilkinson verweist, die herausgefunden haben, dass es Menschen in Gesellschaften mit mehr Ungleichheit schlechter geht als in solchen, wo die Unterschiede zwischen den Klassen weniger groß sind. Das ist auch alles richtig, aber ein Rezept zur Überwindung des Kapitalismus ist es nicht. Eher ein freundlicher Hinweis darauf, dass Wagenknecht auch nicht recht weiß, wie man es anstellen soll, das Monster kaltzustellen. Das Zukunftsmodell, das im Klappentext des Buches versprochen wird, habe ich jedenfalls nicht entdecken können, aber das ist auch kein Wunder. Da steht:
Sahra Wagenknecht nimmt Ludwig Erhard beim Wort: Wohlstand für alle! In ihrer brillanten Analyse entwirft Sie ein Zukunftsmodell, das dort weiterdenkt, wo die meisten Marktwirtschaftler auf halbem Wege stehen bleiben. Ebenso wie die Marktwirtschaft sozial wird, wenn man sie vom Kapitalismus befreit, wird Sozialismus kreativ, wenn man ihn von der Planwirtschaft erlöst. Ein Plädoyer für echten Wettbewerb und echte Leistung.
Das ist vermutlich das Elend des Volkswirtschaftstudiums: Nach so einer Hirnwäsche kann man einfach nicht mehr denken: Ohne Kapitalismus braucht man keine Marktwirtschaft. Der Markt ist kein großer Verteiler, der den Leuten irgendwelche Bedürfnisse erfüllt, sondern eine Maschine zum Geldverdienen. Aber genau das muss man ohne Kapitalismus ja nicht mehr, deshalb sollte man ihn lieber heute als morgen abschaffen. Dann produziert man nämlich einfach, was die Leute tatsächlich brauchen und haben wollen, und verteilt es. Ganz ohne Markt. Und das muss nicht mal unwirtschaftlich sein, weil alle das gemeinsame Interesse haben, die Ressourcen zu schonen. Und weil viele Leute unheimlichen Spaß daran haben, gemeinsam nützliche Dinge zu tun, wird es auch keinen ewigen Mangel geben, wie in dieser eigenartigen realsozialistischen Misswirtschaft, sondern endlich eine bedarfsgerechte Produktion von allem. Warum man den Sozialismus von der Planwirtschaft befreien muss, leuchtet mir auch nicht ein, das ist doch gerade der Vorteil: Es wird vernünftig geplant und nicht am Bedarf vorbei produziert. Bei der Planung kann man wunderbar kreativ sein, denn die Leute wollen ja qualitativ hochwertige Sachen in ausreichender Menge, eine wunderbare Herausforderung! Meinetwegen kann es dann einen Wettbewerb der guten Ideen geben und die Leute können gern leisten so viel sie wollen. Aber echter Wettbewerb und echte Leistung klingt mir dann doch zu sehr nach der alten Konkurrenzgesellschaft. Und da muss Wagenknecht sich jetzt doch mal entscheiden, was sie will. Kreativen Sozialismus oder soziale Marktwirtschaft. Beides geht nicht.