Es sind heute wieder alle da, außer Erich Honecka. Großkampftag für die Polizeifliegerstaffel, alles, was Räder hat, rollt, es ist Herbst 1989 in Leipzig, Ausnahmezustand wie damals, als die Montagsmarschierer ihren Staat abschafften. Dabei ist nur die erste DFB-Pokalrunde zu Gast in der Messestadt, in die der Hallesche FC mit seinen Heimspielen ausweichen muss, weil Sachsen-Anhalts Kulturhauptstadt kein Stadion mehr hat. sachsen ist gewappnet. Alles ist abgesperrt, umgeleitet, auf Zuschauervermeidung konzentriert. Es gab keinen Vorverkauf und es gibt keine Tageskassen, dafür aber Polizeifahrzeuge und Postenketten wie beim Trachtentreffen der Uniformfetischisten. Eine Kette Wasserwerfer ist vor dem Stadionportal aufgefahren, als die nächste Revolution im Bauernkalender auf diesen Sommersonntag ohne Sommersonne terminiert.
9000 haben sich dennoch durchgekämpft in das alte Zentralstadion, das zu Ehren eines österreichischen Self-Made-Millionärs neuerdings Red-Bull-Arena genannt werden soll. Die Quoten stehen vor dem Anpfiff fünf zu eins gegen den Viertligisten, der noch nie eine zweite Pokalrunde erreicht hat. Doch gewinnen muss auch Union auf dem Platz - und schon nach in der ersten Viertelstunde, die beide Fanblocks nutzen, um schweigend und mit pantomimischem Armschwenken gegen den in der umfassenden Staatssicherheitsstrategie gewitterten "Ausverkauf der Fankultur" zu protestieren, ist klar, dass das nicht einfach werden wird. Im Stadion ist trübes Licht, die Gegentribüne ist aus Sicherheitsgründen leer, die 40.000-Mann-Arena erfüllt eine Stimmung wie beim Totentanz: Die Kommandos auf dem Platz sind das lauteste Geräusch im weiten Rund, in dem viel Fußball auch nicht passiert. Halle, von Anfang an mit den drei neuen Christoph Klippel, Bejamin Boltze und Telmo Teixeira-Robelo, macht das Spiel breit und wartet auf Konter, den Berlinern fällt dagegen nichts Gescheites ein. Bis auf eine Chance von Mosquera, der aus fünfzehn Metern mit Karacho über das Tor von Darko Horvat schießt, läuft der Außenseiter nie Gefahr, in Rückstand zu geraten.
Die eigenen Angriffe, häufig von Teixeira und Lindenhahn über Außen vorgetragen, bleiben allerdings ebenso zuverlässig im Mittelfeld stecken. Die erste Torchance hat der HFC, als Boltze einen Freistoß knapp neben das Tor setzt. Schon beim zweiten Versuch aber - das ist dann schon in der 39. Minute - klappt es besser: Wieder Freistoß, wieder Boltze, diesmal nicht direkt, sondern hoch nach vorn geschlagen. Dort steht Klippel, der ein bisschen hüpft und den Ball ins linke Eck köpft.
Jetzt ist Pokal, jetzt ist Stimmung, jetzt brüllt die Tribüne. Sechs Minuten bis zur Pause, sechs Minuten, die Union nutzt, sich weiter von brotloser Kunst zu ernähren. So gewinnt man nicht, nicht einmal gegen eine Mannschaft, deren DFB-Pokalbilanz finster ist wie der Blick der acht Dutzend Volkspolizeihauptwachtmeister, die aus dem fanfernen zweiten Oberrang versuchen, etwaige Ausschreitungen durch Gruppengucken zu verhindern.
Zum Glück geht es auch nach der Halbzeit so weiter. Union hat auch nach Wiederanpfiff mehr Ballbesitz, Halle die besseren Konterchancen, zumindest bis in Strafraumnähe. Dort fällt Lindenhahn dann allerdings regelmäßig hin, Thomas Neubert ist verwundert, dass er angespielt wird, und Jan Benes verläßt der Mut, wirklich bis zur Grundlinie durchzulaufen.
So darf es weitergehen, und so geht es auch weiter. Die Begegnung ähnelt täuschend einem WM-Vorrundenspiel, das vor allem niemand verlieren will. Immerhin aber sorgt die Anzeigetafel für gute Laune im halleschen Block. Die Berliner sind inzwischen wieder zum stummen Protest zurückgekehrt - keine Gefahr mehr für Land und Leute. Weshalb eine halbe Kompanie Polizei in schußsicheren Raumanzügen auch erstmal in den neutralen Block einmarschiert, in dem die älteren HFC-Anhänger mit ihren Söhnen sitzen. Wolln doch mal sehen, ob sich nicht doch irgendwer provozieren lässt!
Aber klar, immer. Seit Jahren schon hat eine Kamarilla aus Halbhirnen den Fußball in Mitteldeutschland in Geiselhaft genommen wie einst die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer. Nur mit mehr Erfolg: Die wirre Truppe aus männerbündisch organisierten Vollzeitchaoten hat den Staat mit Silvesterfeuerwerk und Steinwürfen in die Knie gezwungen. Längst versucht er nicht einmal mehr, den Fußball zu befreien und das halbe hundert Terroristen von der Straße zu holen. Lieber wird das normale Fanvolk mit absurden Fahndungsbildorgien unterhalten, an deren Ende die Erkenntnis steht, dass man Täter hat, aber keine passenden Taten dazu. Es werden ganze Städte abgeriegelt, Spiele abgesagt, tausende Beamte in Marsch gesetzt, Sozialarbeiter bezahlt und gewöhnliche Zuschauer kriminalisiert. Nur um am Ende festzustellen, dass Hubschrauber und Wasserwerfer gegen irre Einzeltäter helfen wie Kanonen bei der Spatzenjagd.
Während sich der HFC, inzwischen in einer erstaunlichen Formation mit Ronny Hebestreit als zweitem Stoßstürmer, bemüht, den Vorsprung über die Zeit zu bringen, und Union mithilft, so gut es geht, zieht im Fanblock hinter dem Tor also wieder einer blank wie zuletzt im Derby gegen den 1. FC Magdeburg. Der Böller fliegt direkt ins Berliner Tor, Torwart Jan Glinker sieht ihn nicht, hört ihn aber, als er explodiert. Wäre der 26-Jährige Andy Möller oder Luca Toni, fiele er jetzt für eine Viertelstunde tot um und brächte dann ein Attest, dass ihm einen schweren Gehörschaden bescheinigt. Das Spiel wäre aus, der HFC hätte gewonnen, um am grünen Tisch zu verlieren. Aber Glinker bleibt stehen, er hält sich das Ohr. Schiedsrichter Sippel unterbricht die Partie, im Fanblock fackeln vier, fünf offensichtlich völlig Wahnsinnige zur Feier des Fast-Sieges Rauchbomben ab.
Gegen Magdeburg reichte das seinerzeit, die eigene Mannschaft so aus dem Rhythmus zu bringen, dass dem FCM noch der Ausgleich glückte. Doch Union ist traditionell eisern und deshalb augenscheinlich zu unbeweglich für eine so schnelle Reaktion. Die HFC-Fans, von denen einige gesehen haben, wer für das Feuerwerk verantwortlich war, singen inzwischen an die Bombenwerfer gewandt "Assis raus". Keiner will es jetzt noch gewesen sein. HFC-Präsident Michael Schädlich steht vor der Fankurve und fleht wie gerade erst beim Landespokalfinale in Sangerhausen, doch die Reste der Vernunft zu benutzen. Im Fanblock haben sie einen gestellt. Es gibt Prügel, ausnahmsweise vielleicht sogar für einen, der sie verdient hat.
Schiri Sippel lässt nun doch wieder weitermachen, noch vier, fünf Minuten sind auf der Uhr. Union kommt noch mal, aber nicht besser als die ganze Zeit bisher. Noch ein Schuss, dann ist Schluß, die Hallenser reißen die Arme hoch, Mouyaya, Boltze und der eingewechselte Aydemir tanzen einen Lipsi. Die Rechnung schreibt wie üblich das DFB-Gericht. Der HFC hat gewonnen, der Fußball wieder einmal verloren. Er bleibt in Geiselhaft bei der Fußball-RAF.