Ich bin ein eiserner Verfechter der Theorie, dass jedes Thema spannend sein kann, wenn man tief genug in die Materie vordringt. Ich liebe es, zu recherchieren, mich auf ein Thema stürzen zu können, mich durch Google, Foren, Gesetzestexte und alles, was ich noch so finde, zu wühlen - solange, bis ich mit dem, was ich gefunden habe, zufrieden bin. Aufgeben? Niemals!
Doch manchmal gelange ich bei meinen Streifzügen an Orte, die mir seltsam fremd sind, wo sich nichts von dem anwenden lässt, was ich weiß, wo die “Natur-”Gesetze scheinbar nicht gelten, wo man sich nicht sicher ist, ob man in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft gelandet ist, und wo ich mich (was selten vorkommt) einfach nicht wohl fühle.
Das DIP
So ging es mir, als ich eines schönen Tages auf der Seite des Bundestags landete, genauer im noch fast funkelnagelneue DIP, dem Dokumentations- und Informationssystem. Dort hat man die Möglichkeit, Drucksachen, Plenarprotokolle, Beratungsabläufe und Aktivitäten zu suchen, anzusehen und downzuloaden, und zwar mit einer einfachen und einer erweiterten Suche. Super, denk ich, das ist ja einfach, und im Suchen bin ich ja eh gut. Das Suchwort „Internet“ bringt auch gleich eine Menge Treffer, 215 Stück, in Häppchen zu 12 Stück. Die meisten mit so aussagekräftig angeteaserten Überschriften wie „Verfahrensweise mit der bereits errichteten o..“ oder „Gesetz zur Anpassung von Vorschriften auf dem..“. Gut, der mouseover-effect funktioniert tadellos und bei 12 Treffern pro Seite ist man ganz fix und fertig.
Der Download macht etwas Schwierigkeiten, also versuche ich mein Glück erstmal auf der Seite „Einführung“, um dort festzustellen, dass mir gefühlte 80 Seiten als Erklärung für eine Suchfunktion zu viel sind, selbt wenn diese in so einfachen Worten geschrieben ist wie:
Im Formularbereich „Zugehörige Drucksachen“ kann der Herausgeber
sowie eine Teil- (unter Verwendung der Modifikatoren „*“ bzw. „%“: siehe Filter) oder die komplette
Nummer einer zugehörigen Drucksache spezifiziert werden.
Beim Versuch, etwas aus der Hilfe zu erfahren, lerne ich, dass man % und * als Trunkierungszeichen verwenden kann und Links-Trunkierung möglich ist, auf das Downloaden verzichte ich allerdings freiwillig und sichte die Dokumente online. Aber es nagt an mir. Der Gedanke – diese Seite, diese Suchfunktion, die ist doch sicher so erstellt, dass die Bedienung intuitiv und kinderleicht ist. Und in der Hilfe stehen Wörter, die du noch nie gehört hast.
Es nagt also, und ich suche beunruhigt nach etwas Vertrautem, bis meine Augen an einem kleinen Wort hängen bleiben: Web2.0, hach, schön, ja, das kenn ich, puh, also wenn es das noch gibt, dann ist noch nicht alles zu spät, dann bin ich noch nicht von gestern. Aber das vertraute Gefühl hält nicht lange. Ich lese weiter (Seite 20 unten), lese von “Web2.0-Technologien”, die sich Chat und TagCloud nennen, von Bildschirmschonern für 18.000 und einem Vogel für 180.000 Euro, der zwar weder reden noch fliegen kann, dessen leicht sarkastische Ader mir unter anderen Umständen aber vielleicht sogar sympathisch sein könnte – denn auf meine Frage, ob er die 180.000 Euro wert war, empfiehlt er mir einen Taschenrechner. Ein echter Spaßvogel.
Fühlt es sich so an, wenn der technische Fortschritt an einem vorbei zieht, ohne dass man es merkt? Ist das schon der Anfang vom Ende für mich, nachdem das Ende des Anfangs grade erst ein paar Monate vorbei ist? Will ich überhaupt dazu gehören, wenn das die Zukunft ist? Wie war nochmal die Adresse von dieser Online-Suizid-Maschine?
Abgezwitschert
Und ich bin schon kurz davor, den Off-Knopf zu drücken, die „Wollen Sie wirklich???“-Frage mit „Ja“ zu beantworten und mein Geld ab morgen als Eisverkäuferin zu verdienen, in einem Park mit ECHTEN Vögeln, deren einziger Input Körner und Würmer sind, die nicht im Netz, sondern im Nest leben, deren “Tweets” mehr als 140 Zeichen haben – und dann denke ich mir “Nä! Nn-nn! Wenn hier einer einen Vogel hat, dann bin das ja wohl offensichtlich nicht ICH!” und klicke auf “abbrechen”, verlasse das DIP, sage dem Avatar, dass er sich verzwitschern soll, und ziehe auf meinem Weg weiter, ohne nochmal über die Schulter zu blicken.
Mittlerweile glaube ich, der Bundestag, der hat einfach sein eigenes Web2.0, und die Ministerien wahrscheinlich auch, heißt ja auch so, Mitmachweb, ich-mach-mir-das-Web-widde-widde-wie-und-so-weiter. Ob alle zusammen einen Vogel haben, oder ob der nur dem Bundestag gehört, ist ja auch eigentlich egal, goldene Gans oder Pleitegeier, Geniestreich oder made in Schildburg – eines muss man ihm wirklich zu Gute halten: er hält wenigstens den Schnabel.
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