Verkehrte Welt?

Auch nach Aufdeckung der Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« bleiben vor allem Migranten, Antifaschisten und Kriegsgegner im Visier der Ermittlungsbehörden

Von Wera Richter
 
Nach allem, was trotz Aktenschredderei über Versagen und Mitwirken des Verfassungsschutzes an den Morden, Anschlägen und Überfällen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) an das Licht kam, gehört der Geheimdienst aufgelöst. Das Gegenteil ist der Fall. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) träumt von einer Megabehörde mit erweiterten Kompetenzen.

Die Opfer des NSU waren lange Zeit selbst im Visier der Ermittler. Das war kein Fauxpas, sondern folgte der Logik von Behörden, Ämtern und Geheimdiensten, die eine Hauptgefahr für Land und Leute in der »Ausländerkriminalität« sehen. Auch Friedrichs neueste Kampagne ist so gestrickt: Steckbriefe von jungen Migranten warnen vor der Radikalisierung von Muslimen und fordern zur Denunziation auf. Der Text, ein Meisterwerk der Heuchelei: »Das ist mein Bruder. Ich vermisse ihn, denn ich erkenne ihn nicht wieder. Er zieht sich immer mehr zurück. … Wenn es Dir auch so geht, melde Dich bei der Beratungsstelle Radikalisierung«.

Auf der Fahndungsliste sind neben Migranten weiterhin Antifaschisten und Kriegsgegner. In Nordrhein-Westfalen folgte dem längst fälligen Verbot der besonders militanten Neonazikameradschaften aus Dortmund, Hamm und Aachen, das Verbot eines antifaschistischen Camps. Das Zeltlager richtete sich gegen den jahrelang geduldeten und polizeilich geschützten »Nationalen Antikriegstag« der »Autonomen Nationalisten«, einer der größten Neonaziaufmärsche Europas. Bis Redaktionsschluß dieser Beilage blieb er für dieses Jahr verboten. Vertrauen in deutsche Gerichte ist aber Fehl am Platz, deshalb mobilisierten Antifaschisten für den 1. September weiterhin nach Dortmund, um rechte Provokationen am Antikriegstag zu verhindern.

Eins der spektakulärsten Urteile des Jahres war der Freispruch für den Neofaschisten Florian Stech aus Ortenau durch das Landgericht Freiburg. Der Mann war im Oktober 2011 mit dem Wagen in eine Gruppe von Antifaschisten gefahren und hatte einen davon lebensgefährlich verletzt. Für den Mordversuch gab es einen Freispruch – weil es sich um eine Notwehrsituation gehandelt haben könnte. Die Richterin entschied »im Zweifel für den Angeklagten« und versicherte, ohne rot zu werden: »Justitia ist nicht auf dem rechten Auge blind.«

Nicht freigesprochen wurde die Publizistin und Kriegsgegnerin Inge Viett. Sie hatte auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 2011 gesagt: »Wenn Deutschland Krieg führt und als Antikriegsaktion Bundeswehrausrüstung abgefackelt wird, dann ist das eine legitime Aktion wie auch Sabotage im Betrieb an Rüstungsgütern, illegale Streikaktionen, Betriebs- und Hausbesetzungen, militante antifaschistische Aktionen, Gegenwehr bei Polizeiattacken etc.« Wegen der Billigung und Belobigung von Straftaten, kombiniert mit einer schlechten Sozialprognose, soll die ehemalige Aktivistin der Bewegung 2. Juni und der RAF 1200 Euro Strafe und die Verfahrenskosten zahlen.

 
Nicht nur freigesprochen, sondern auch befördert wurde hingegen Bundeswehroberst Georg Klein. Er ist nun General. Im September 2009 hatte er mit seinem Befehl, einen Tanklastwagen bei Kundus in Afghanistan zu bombardieren, mehr als 140 Menschen umgebracht, die sich mit Benzin versorgen wollten.

Verkehrte Welt? Nein, Kapitalismus pur. Es ist absehbar, daß die Krisenfolgen nun auch in Deutschland mit all ihrer Härte durchschlagen. Drastischer Anstieg der Massenarbeitslosigkeit, massivste Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen stehen bevor. Ein heißer Herbst ist aber nicht in Sicht.

Und doch treibt es die Herrschenden um, daß es bald vorbei sein könnte mit der Friedhofsruhe. Auf ihrer Agenda steht deshalb die Spaltung der Arbeiterklasse durch staatliche Hetze gegen Migranten und wiederholte Lügen à la »Wir zahlen für die Griechen«. Das zu unterfüttern, ist Aufgabe der Neofaschisten. Auf der Tagesordnung steht die Kriminalisierung von Antikapitalisten, Antifaschisten, Kriegsgegnern und die Delegitimierung der DDR, damit über einen neuen Anlauf nicht genauer nachgedacht wird. Zuletzt schaffte es der »Präsident der Herzen«, Joachim Gauck, die Deutsche Demokratische Republik für die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen vor 20 Jahren verantwortlich zu machen.

Auf der Tagesordnung steht auch der Ausbau des Sicherheitsapparates bis hin zum Bundeswehreinsatz im Innern. Im August erlaubte das Bundesverfassungsgericht der Truppe, auch im Inland mit militärischen Mitteln vorzugehen – im Fall von Terrorgefahr. Den Notstand auszurufen, wird Friedrichs »Beratungsstelle Radikalisierung« nicht schwer fallen.

 
Quelle: http://www.jungewelt.de/2012/09-01/001.php


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